Donnerstag, 3. Dezember 2009

Beruf und Chance - Macken machen sympathisch

Wer sich im Beruf ständig verbiegt, tut sich damit keinen Gefallen. Authentizität ist erlaubt - sogar erwünscht. Vorausgesetzt, Mitarbeiter lassen nicht ihre schlechte Laune an den Kollegen aus.

Von Ursula Kals


Morgens beim Bäcker. Die Kundin strapaziert die Nerven der Verkäuferin und der wachsenden Warteschlange. Drei oder vier Brötchen. Mit oder ohne Mohn. Nein, doch lieber mit. Prompt entdeckt die entscheidungsschwache Dame Kornwecken im Angebot, tyrannisiert die Bäckersfrau mit Fragen nach Zusatzstoffen und intimen Allergiegeschichten. Bezahlt werden schlussendlich zwei Brötchen mit einem 50-Euro-Schein. Da platzt der Verkäuferin der Kragen, sie keift die Kundin an. In gewisser Weise waren beide Frauen authentisch: Die eine hat ihrer Wut Luft gemacht, die andere hat ihre Emotionalität ausgelebt. Sie haben ihr wahres Ich gezeigt. Dem Miteinander ist das nicht zuträglich.


Denn Authentizität, die unverstellte Echtheit im Umgang mit anderen, reklamieren viele gerne für sich, leben hierbei aber nur ihre Disziplin- und Rücksichtslosigkeit aus. "Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu", lautet der legendäre Satz aus einem Stück des Dramatikers Ödon von Horváth. Gerade im Berufsalltag neigen Menschen dazu, in Rollen zu schlüpfen, die ihnen wesensfremd sind. Sie sind überzeugt: Nur wer sich verbiegt, kann im Haifischbecken bestehen, nur wer Vorgesetzten obrigkeitshörig-servil begegnet, der überlebt. Sie irren.

"Auf Dauer verlieren solche Menschen an Respekt. Sie nehmen sich so zurück, dass sie nicht mehr natürlich erscheinen und Charisma verlieren", sagt Felicitas von Elverfeldt aus Frankfurt, seit 15 Jahren auf Führungskräftetraining spezialisiert. Überzeugend treten eher diejenigen auf, die so sind, wie sie sind, und die Echtheit verkörpern. Psychologin von Elverfeldt sagt: "Grundsätzlich empfehle ich, die eigene Individualität authentisch zu leben. Wer sich zu sehr zurücknimmt, verliert an Wirkung und Führungsstärke. Es geht auch darum zu zeigen: ,Hey, ich kann auch etwas!'"

Anne Katrin Matyssek aus Düsseldorf, ebenfalls Diplompsychologin, vertritt eine ähnliche Haltung und rät, "sich so authentisch wie möglich zu verhalten, sich transparent machen und Emotionen zu zeigen". Damit stellt die Führungsexpertin aber nicht all jenen einen Freifahrschein aus, die ungebremst herumpoltern und ihre fehlende Affektkontrolle als authentisch deklarieren: "Das ist unverschämt, schlechter Sozialumgang und Missbrauch eines Modewortes." Siehe Bäckerei. Immer wieder hat Anne Katrin Matyssek Klienten, häufig Ingenieure, die entweder "mit Pokerface unterwegs sind" oder ihre Mitarbeiter anraunzen, weil sie zu Hause unter Druck stehen. Schulterzuckend sagt ein Klient ihr im Gespräch: "Das Polternde ist eben meine Art. Meine Leute kennen mich so und können damit umgehen."

Gute Strategien sehen anders aus. Anne Katrin Matyssek skizziert eine mögliche Haltung: "Natürlich sollten Sie nicht sagen: ,Gestern habe ich meine Frau beim Fremdgehen erwischt!', aber ruhig: ,Heute ist nicht mein Tag, heute ist mir nicht nach Kontakt.' Damit stößt man keinen vor den Kopf, wird aber in Ruhe gelassen." Ihren Pokerface-Klienten versucht sie nahezubringen, dass es nicht darum geht, "Selbstzweifel im großen Stil offen vor sich herzutragen", aber möglicherweise bei Kundenreklamationen kleine Fehler zuzugeben. "Das macht sympathisch." Zumal Menschen perfekte Menschen nicht so gerne mögen. Eine Super-Kleidergröße-34-Vierfach-Mutti vom Typ Heidi Klum finden "echte" Mütter nicht wirklich anziehend. Überdies provozieren Hochglanzfassaden-Menschen die anderen, auf Fehlersuche zu gehen.

Je höher die erreichte Hierarchiestufe, je konservativer das Milieu - Beispiel Banken -, desto undurchlässiger sei in der Regel die äußere Fassade. Auf Fragen einer Feedbackkultur im Unternehmen hört die promovierte Psychologin dann Kommentare wie: "Ich sage doch nicht, was ich denke, und zeige erst recht nicht, was ich fühle. Das geht die nichts an, was in mir abgeht." In anderen Berufsmilieus, etwa in sozialen Berufen, gibt es mehr Bereitschaft, über sich und andere zu reflektieren. Matyssek erkennt hier "mehr Mut zum Echtsein". Was sie Zweiflern zugesteht, ist die Kehrseite von Authentizität. "Das ist ein kalkuliertes Risiko. Man macht sich verletzlich, angreifbar und gibt einen Vertrauensvorschuss."

Anne Katrin Matyssek, die im Berufsverband Deutscher Psychologen organisiert ist und ein Buch über "Führung und Gesundheit" geschrieben hat, ist überzeugt: "Eine Pokerface- Haltung ist unendlich anstrengend. Authentisch sein ist gesünder." Die Gesprächstherapeutin arbeitet nach dem Psychologen Carl Rogers, der davon ausgeht, dass Authentizität, Echtheit im Kontakt, ein Grundkriterium dafür ist, dass Menschen aufblühen und ihre ganze Kraft erlangen.

Allerdings macht Felicitas von Elverfeldt eine entscheidende Einschränkung: Offenheit ja, Kritik üben ja, aber nicht in jedem Kreis. Eine eiserne Regel sei unumstößlich: "Nie vor versammelter Mannschaft zeigen, dass ich besser bin als der Chef, und ihn hart kritisieren." Ein Verstoß gegen die Hackordnung verzeihe ein Chef nicht. "Unter vier Augen kann ich ihm viel sagen, nicht aber vor anderen. Ein Starker will auch einen Starken, aber nicht vor versammelter Mannschaft." Von Elverfeldt betont, dass ein gewisses Maß an Fingerspitzengefühl und Anpassung "auf Basis der sozialen Kompetenz" dazugehört. "Ein CEO sollte nicht vor seinen Mitarbeitern jammern, wie angeschlagen er sich fühlt, da dies für Unruhe in der Belegschaft sorgt. Vielmehr ist gemäß seiner Rolle Belastbarkeit, Diplomatie sowie eine gewisse Vorbildfunktion nötig." Sie verweist auch auf Auslandseinsätze. Kluge Menschen passen sich einer fremden Kultur so weit wie möglich an, bleiben dennoch authentisch Deutsche. Das Gleiche gelte auch für die Karriere, eine Anpassung an "gewisse kulturspezifische Codes und Umgangsformen" sei unumgänglich. Das fange schon bei der Kleidung an.

Lassen weder ein extremes Berufsmilieu noch eine autoritäre Chefpersönlichkeit ein gesundes Maß an Echtheit zu, bleibt ein anderer Weg. "Statt sich kräftezehrend zu verbiegen, ist es sinnvoller, den passenden Kontext zu wählen, der dem eigenen Wesen am ehesten entspricht", sagt Felicitas von Elverfeldt. Das sieht auch Guido Fiolka so. Der Geschäftsführer der European Leadership Academy in Berlin arbeitet als Führungskräfte-Coach und versucht mit seinen Klienten herauszufinden, welche Position, welches berufliche Umfeld bestmöglich zu ihnen passt. Überspitzt gesagt: Ist das gefunden, erledige sich die Frage der Authentizität quasi von selbst. Oft aber sei eben nicht die richtige Person am richtigen Ort, und damit werde auch nicht die volle Leistung erbracht.

Die drei klassischen Fragen versucht Fiolka zunächst zu klären: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? "Man ist sehr gut beraten - auch der Arbeitgeber -, dass man den Weg wählt, der der eigenen Persönlichkeit entspricht." Neben der grundlegenden Entscheidung, eine Fach- oder eben eine Managementkarriere anzustreben, lohne ein Blick auf eigene Wertvorstellungen, ihren Wandel und die Persönlichkeit. Nur Führungskraft zu werden, weil man ein Statusmotiv hat, introvertiert zu sein, aber sich "auf einen Außenministerposten im Unternehmen" zu bewerben, blockiere authentisches Arbeiten, warnt Fiolka. Frauen in Führungspositionen seien besonders gefordert. "Wir bestärken Frauen, sie selbst zu sein, weibliche Qualitäten in der Männerwelt einzubringen. Wenn sie in einer Männerkultur versuchen, sich völlig anzupassen, haben sie oft keinen Erfolg. Authentizität erzeugt hingegen bei anderen ein hohes Maß an Akzeptanz und Wertschätzung."


Text: F.A.Z., 28.11.2009, Nr. 277 / Seite C1