Von Misstrauen geprägt
Polen debattiert über eine Reform seiner Verfassung / Von Konrad Schuller
Warschau, im Dezember
In Polen hat Präsident Lech Kaczyński in den vergangenen Wochen Rückzugsgefechte geführt. Seine nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS – Prawo i Sprawiedliwość), die in der Regierungszeit seines Zwillingsbruders Jaroslaw zwischen 2005 und 2007 das Land in eine rechtspatriotische „Vierte Republik“ verwandeln wollte, ha vor einem Jahr ihre Mehrheit eingebüßt, der Bruder verlor das Amt des Ministerpräsidenten, und die rechtsliberale Konkurrenz, die „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska) Donald Tusks, erreicht heute in Umfragen bis zu 60 Prozent Zustimmung.
Angesichts schwindenden Rückhalts hat der Präsident zuletzt seinen Einfluss durch sein schärfstes Instrument zu wahren versucht: das Vetorecht, das ihm erlaubt, fast alle von Parlament beschlossenen Gesetze zurückzuweisen. Insgesamt zwölfmal hat er dieses Recht im zu Ende gehenden Jahr genutzt, wenn es auch Ministerpräsiden Tusk in einigen Fällen gelungen ist, mit den Stimmen der oppositionellen Linken jenen 60-Prozen-Mehrheit i Parlament zu mobilisieren, die nötig ist, um ein Präsidentenveto zu überstimmen. In der vergangenen Woche hat Tusk auf diese Weise zwar die Rationalisierung des Rentenrechts durchsetzen können, ein Kernprojekt seines marktliberalen Programms; ein anderes Vorhaben, die Reform des Gesundheitswesens, aber blieb auf der Strecke. Tusks Regierung ist damit durch das Einspruchsrecht des Präsidenten partiell gelähmt.
Die polnische Verfassung von 1997, geschaffenen der von Misstrauen und Machtrivalität geprägten Atmosphäre des ersten Wendejahrzehnts, trägt deutlich die Spuren ungelöster Konflikte. Die Verfassungsväter haben sich seinerzeit nicht entschließen können, die Macht eindeutig dem einen oder anderen Verfassungsorgan zuzuweisen. Stattdessen durchzieht die ungeklärte Konkurrenz zwischen Regierung und Präsident das gesamte konstitutionelle System. Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, aber die Regierung ist zuständig für Verteidigungspolitik; der Präsiden vertritt die Republik nach außen aber die Regierung regelt die auswärtigen Angelegenheiten. Generäle und Botschafter können nur im Konsens ernannt werden. In der Praxis des vergangenen Jahres hat das dazu geführt, dass militärische und diplomatische Spitzenpositionen über Monate unbesetzt blieben. Die Blockade des Systems ist kaum zu überwinden, weil der Präsident das Parlament zwar über das Veto paralysieren kann, aber (andres als etwa der Präsiden Freiunkreichs) nur in sehr begrenzten Fällen das Recht hat, es aufzulösen. Der Konflikt zwischen Ministerpräsident und Präsident hat dabei zuletzt so skurrile Folgen gehabt wie den verbissenen Kampf Tusks und Kaczyńskis um den Gebrauch der regierungseigenen Flugzeuge, meist bejahrter, rot-weiß gestrichener sowjetischer Tupolews. Wenn sich die beiden – wie zuletzt Anfang Dezember – wieder einmal nicht einigen können, wer Polen auf Gipfeltreffen der Europäischen Union vertreten darf, und deshalb gemeinsam anreisen, bewegt keine Frage die Nation intensiver als die, wer von ihnen nun das Recht habe, am Brüsseler Verhandlungstisch die Sprechanlage zu nutzen, wenn die EU-Präsidentschaft Polen das Wort zuweist. Zuletzt neigten Verfassungsexperten zu der Annahme, derjenige dürfe dann sprechen, dessen Zeigefinger am schnellsten zum Stromschalter zucke.
Das dieser Zustand ebenso schädlich wie beschämend ist, bestreitet in der polnischen Gesellschaft und Politik kaum jemand. Die beiden Zeitungen, die am deutlichsten die verfeindeten Hauptlager der polnische Politik vertreten, die liberale „Gazeta Wyborcza“ und die konservative „Rzeczpospoita“, fordern in ihren Leitartikeln schon seit längerer Zeit einmütig eine Veränderung, und auch in den politischen Eliten herrscht im Prinzip Einigkeit. Donald Tusk, der von den präsidialen Veto gebeutelte Ministerpräsident, hat den jetzigen Zustand mit dem verderblichen „Liberum Veto“ in der polnischen Adelsrepublik des achtzehnten Jahrhunderts verglichen, als das totale Konsensprinzip im Adelsparlament, dem Sejm, zur Lähmung des Staates führte, und Polen schließlich zum leiten Opfer seiner teilungsgierigen Nachbarn Preußen Russland und Österreich machte.
Tusk verlang t deshalb seit langem, die Verfassung zu ändern und entweder dem Präsidenten oder dem Regierungschef genug Kompetenzen zu geben, um das Land verantwortlich zu führen. Welche der beiden Möglichkeiten genutzt wird, ist ihm dabei nach seiner eigenen Aussage gleichgültig – entscheidend sei nur, die Handlungsfähigkeit der Demokratie wiederherzustellen. „Lassen Sie uns gemeinsam beschließen, das der, welcher Wahlen gewinnt, auch regiert“, ist Tusks ceterum censeo.
Auch das nationalkonservative Lager der Brüder Kaczyński, ohne das die notwendige Zweidrittelmehrheit für eine Straffung der Verfassung gegenwärtig nicht möglich ist, hat immer wieder Reformen verlangt. Ihr altes Projekt einer „Vierten Republik“ als Nachfolgerin der angeblich völlig verkommenen, von ausländischen Agenten und Kommunisten unterwanderten Demokratie von 1989 sah unter anderem einen „starken Präsidenten“ vor, der anders als heute das Recht haben sollten, die Wahl des Ministerpräsidenten entscheidend zu beeinflussen und dessen Veto noch schwerer zu überstimmen wäre als heute. Nach dem Modell der Zwillinge wäre die auch von Tusk verlangte Eindeutigkeit er Kompetenzverteilung in Gestalt eine klaren Präsidialrepublik verwirklicht gewesen. Aber auch die Partei der Brüder Kaczyński ist dabei anscheinend nicht völlig festgelegt auf die präsidiale Option. Der Sprecher der Präsidentenfraktion im Parlament jedenfalls hat einmal gesagt, man sei bereit, auch über die Variante einer parlamentarischen „Kanzlerdemokratie“ zu reden.
Dennoch hat weder die Regierung Tusk noch die nationalkonservative Rechte bisher versucht, aus dieser prinzipiellen Einigkeit im Ansatz einen konkreten Reformkonsens zu schieden. Die Ursache dieser Untätigkeit liegt möglicherweise in den taktischen Erfordernissen der nächsten Jahre. Im Jahr 2010 stehen in Polen die nächsten Präsidentenwahlen an, und Tusk hat sich noch nicht endgültig festgelegt, ob er dann Ministerpräsident bleiben oder gegen Kaczyński antreten will. Alles spricht zwar gegenwärtig dafür, dass er den Kampf gegen seine alten Rivalen aufnehmen wird, doch die letzte Entscheidung hat er sich offengehalten – wohl auch , um eventuellen Konkurrenten im Unklaren zu lassen. Außerdem möchte Tusk möglicherweise vor eine konstitutionellen Reform erst den von manchen erwarteten Zerfall der Kaczyński-Partei abwarten. Dann, so lautet eines der kursierenden Kalkülen, könnte er ohne die lästige Mitsprache seiner Intimfeinde Polens nächste Verfassung entwerfen.
Text: F.A.Z., Nr. 301, vom 24.12.2008, Seite 10
1. Bach. Italiaans concert BWV971.
2. Debussy. Estampes.
3. Chopin. Twee nocturnes opus 62.
4. Chopin. Sonate in b opus 58.
Rafal Blechacz, piano.
Opname van een concert gegeven op 15-8-2008 in het Mozarteum te Salzburg.
(http://www.radio4.nl/page/gids/ und http://www.radio4.nl/page/live/breedband)
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