Im Schatten der Al-Nur-Moschee
Von Güner Y. Balci
24. Februar 2009 Für Besser B. ist das gemeinsame Frühstück bei ihrer Freundin Fatma M. fast der einzige Anlass, für den sie ihre zweiundreißig Quadratmeter große Wohnung verlässt. Gegenüber sind die qualmenden Schornsteine der Zigarettenfabrik zu sehen, dahinter die Berliner Al-Nur-Moschee. „Manchmal treffen wir uns auch zum Fernsehen“, sagt Besser. Und mit einem Seufzer fügt sie hinzu: „Was sollen wir auch sonst machen, wir sind alt geworden in diesem fremden Land, unsere Knochen sind kaputt, mit uns ist es vorbei.“ Die jüngere Generation solle jetzt zusehen, dass sie etwas Besseres aus ihrem Leben macht, vielleicht mit Schule oder einer guten Arbeit. Wie das genau aussehen soll, weiß sie nicht.
Besser kann nicht einmal ihren Namen schreiben, eine Schulbildung für Mädchen gab es in ihrem Dorf nicht. Besser kennt auch ihr genaues Alter nicht; so um die Dreiundsechzig müsste es sein, glaubt sie. Man habe ihr damals, in den fünfziger Jahren, bei der Meldebehörde einer kleinen Stadt im Osten der Türkei einfach irgendein Alter eingetragen, weil niemand sich im Dorf ihr genaues Geburtsdatum gemerkt habe, sagt sie. Sie hält sich die Hand vor den Mund und lacht verlegen.
Tradition in Neukölln
Besser kam 1973 aus ihrem Dorf in Anatolien nach Berlin. Ihr Mann Ahmed hatte sie und die drei Söhne Ziya, Hüseyin und Zeynel hergeholt, weil er es nicht länger ertrug, in Deutschland als Gastarbeiter – er war einer der ersten – von seiner Familie getrennt zu sein. Sie arbeitete bis zu ihrer Frühverrentung Mitte der Neunziger als Putzfrau. 1992 starb ihr Mann, seither lebt sie allein. Besser klagt, ihre drei Söhne, acht Enkelkinder und einen Urenkel nur selten sehen zu können. In Deutschland hätten sich die familiären Bindungen etwas gelockert, und das, obwohl sie doch damals ihre drei Schwiegertöchter alle aus der Türkei geholt habe. Blutsverwandte, betont sie stolz, das sei das Beste, um den Zusammenhalt zu bewahren. Mit dieser Überzeugung ist Besser in ihrem muslimischen Viertel in Neukölln nicht allein. Wer es als junger Mensch in der Schule nicht schafft, dem steht die Ehe offen, andere Alternativen gibt es kaum und wenn doch, verlangt das nicht selten den Bruch mit der Familie.
Auch ohne die neue Migrationsstudie des Berlin-Institutes lässt sich schnell feststellen: je ungebildeter ein Migrant ist, umso enger ist er den Traditionen seines Herkunftslandes verhaftet, gerade darum sind viele Türken geprägt von einem archaischen Menschenbild, das mit der Idee der Grundrechte in diesem Land nur schwer in Einklang zu bringen ist: Schlechte Voraussetzungen, um die Bildungsmöglichkeiten hier für ihre Kinder zu nutzen.
Schule und Arbeitsstelle werden von türkischstämmigen Eltern, die keinen Wert auf Bildung legen, oft als ein Ort angesehen, an dem die Gesetze und Werte der deutschen Gesellschaft gelebt werden, und davor wollen viele ihre Kinder bewahren. So passiert es nicht selten, dass die Kinder schon im Grundschulalter statt zur Mathenachhilfestunde in den Koranunterricht geschickt werden oder zu Hause vor dem Fernseher herumhängen. Eine Entwicklung, die Lehrer und Sozialarbeiter seit Jahren mit Sorge beobachten. Hinzu kommt, dass man sich in dieser Parallelwelt immer strenger gegenseitig kontrolliert und sozialen Druck aufbaut. Besonders bildungswilligen Schülern wird es so noch schwerer, den Schulalltag ohne Diskriminierungen zu überstehen, dort, wo sie eine Minderheit sind – getreu dem Motto, wenn du nicht zu uns Türken gehörst, bist du deutsch. Wer zum Deutschen mutiert, ist eigentlich ein Verräter.
So erging es Fatma Ö. Sie ist jetzt zwölf und war froh, als sie die Grundschule endlich überstanden hatte und auf ein Gymnasium kam, an dem weniger Migranten lernen. In Fatmas Grundschule lag der Anteil der Migrantenkinder bei fast achtzig Prozent, die meisten kamen aus muslimischen Familien. Fatmas Mutter erzieht sie und ihren jüngeren Bruder allein. Auf dem Schulhof wurde sie von Mitschülern gehänselt, weil sie keinen Vater habe – eine Familie ohne Vater ist eine Schande, das darf es in türkischen Verhältnissen nicht geben. „Hurentochter“ hat man ihr nachgerufen, wenn sie es wagte, sich gegen Anfeindungen zu wehren. Arabische und türkische Jungs beschimpften sie als „Schweinefleischfresserin“, wenn sie nicht rechtzeitig ihr Salamibrot versteckte.
Bildungsverlierer als Herren der Straßen
Die größten Probleme aber bekam Fatma, weil sie nicht am Koranunterricht teilnahm, der zweimal in der Woche an der Schule erteilt wurde. „Natürlich ist es schwer, seine Kinder in so einem Umfeld zu erziehen“, sagt ihre Mutter Gül, die studiert hat und sich als säkulare Muslima bezeichnet. Gemeinsam mit einer deutschen Kollegin bietet sie in Neukölln einen Deutschkurs für Frauen an. Einen Umzug in ein besseres Wohnviertel kann sich nicht leisten, die Privatschule schon gar nicht. Statt dessen versucht sie, mit Klavierunterricht und Fußballverein, ihre Kinder so lange wie nur möglich von der Straße fernzuhalten. Dort, wo sie von immer brutaler agierenden Jungenbanden sofort als Opfer, als Andersartige identifiziert und schikaniert werden könnten.
Die Herren der Straße sind die Bildungsverlierer, was die Stadt so lange nicht wahrnimmt, wie sie sich in ihrer Welt bewegen. Eine Welt, in der es kaum ins Gewicht fällt, ob sie einen Schulabschluss haben oder nicht. Hauptsache, man weiß, wo es günstige Hochzeitskredite gibt, die man bekommt, ohne ein eigenes Einkommen nachweisen zu müssen, etwa bei der Deutschen Bank – die zählt bei türkischen Familien zu den Favoriten. Diese Jungen heiraten sehr früh, meist wird die Braut immer noch, wie zu Bessers Zeiten, aus der alten Heimat geholt, und die Kinderschar wächst rasch. So bleibt man unter sich und richtet sich ein am Rande der Gesellschaft.
Ein Sammelpunkt radikaler Islamisten
Die „Integrationsarbeit“ übernehmen in diesem Viertel zunehmend fragwürdige Migrantenvereine und muslimische Verbände. Sie zumindest haben erkannt, dass gescheiterte Jugendliche auf der Straße ein Potential sind und sie schicken ihre Hinterhofprediger gern in die arabischen Hähnchenbratereien und türkischen Teestuben – fruchtbare Äcker für die Missionierungsarbeit.
So erklärt sich auch der große Zulauf, den die Neuköllner Al-Nur-Moschee hat, die nicht nur den Sicherheitsbehörden als Sammelpunkt radikaler Islamisten gilt. Jeden Sonntag herrscht großes Gedränge vor den Eingängen. Die Moschee ist ein trister Plattenbau aus den siebziger Jahren, am Rande eines Wohnviertels gelegen, im sonst menschenleeren Industriegebiet. Hier wird ein Islam propagiert, der sich auf die Salafiyya-Bewegung stützt, dessen Religionsverständnis aus der Zeit des Propheten Mohammed stammt, der sich extrem fromm und buchstabengetreu am Koran und der Scharia orientiert, also auch den Alltag kanonisch regelt, ein für allemal. Neuerungen sind verboten, eine zeitgenössische Theologie nicht zulässig. Die Salafiyya gelten als Vorläufer des Islamismus, weil sie nicht nur die Spiritualität der Menschen befriedigen wollen, sondern den Islam auch als politische Idee propagieren.
Leben nach orthodoxen Regeln
Wie ein Popstar, mit Prophetenbart und Dolby-Surround-Anlage, feuert dort der umstrittene Prediger Abdul Adhim seine Zuhörer, meist unter dreißigjährige Muslime und Konvertiten, dazu an, sich in allen Belangen des Alltages auf ihre Religion und deren Gesetze zu verlassen und sonst nichts. Eines der erklärten Ziele der Gemeinde ist es, „insbesondere die religiöse, soziale und kulturelle Betreuung der in Berlin lebenden Muslime“ zu übernehmen. Scharia für alle, die mit den Grundrechten in Deutschland an ihre religiösen Grenzen stoßen. Auch die Kinder sollen möglichst früh an ein Leben nach orthodoxen islamischen Regeln herangeführt werden, deshalb betreibt der Verein gleich noch einen Kindergarten und berät Eltern, wie sie mit Kniffen und Tricks die Teilhabe ihrer Töchter am Sport- und Schwimmunterricht verhindern können.
Abdul Adhims Liste für die Vorgaben zur richtigen Kindererziehung ist lang, ganze fünfundsiebzig Punkte werden in einer Sitzung abgearbeitet. Kein einziger erwähnt das Miteinander mit Andersgläubigen als notwendig, um sich in die Gesellschaft zu integrieren. Statt dessen ruft Abdul Adhim die Eltern immer wieder dazu auf, die Kinder unbedingt in die Moschee zu bringen, „damit sie mit dem muslimischen Körper eins werden und immer drinnen sind und nicht draußen“. Draussen, das ist die nichtmuslimische Gesellschaft, von deren Feiertagen rät Abdul Adhim mit ermahnemden Zeigefinger, sich fernzuhalten und die Feinde zu verabscheuen und zu hassen.
Feindbilder
Feinde sind Israeliten, Zionisten, Kolonialisten und andere Übeltäter, die sich in muslimischen Ländern als Besatzer aufführen – das könnten Kinder nicht früh genug lernen. Am Schluss seiner Liste mit Erziehungsratschlägen empfiehlt der Marokkaner Schießübungen und Kampfsport. Als ein Zuhörer fragt, ob auch Fußball zu empfehlen sei, winkt der Prediger nur angewidert ab. Vielleicht sind ihm nackte Männerbeine zu unislamisch. Denn auch die Kleiderordnung der Salafiyya stammt aus der Zeit des Propheten: langer Mantel und Vollbart für Männer und bodenlange Schleier für Frauen sind nicht mehr wegzudenken aus Neuköllns Straßenbild.
Auch in den Deutschkurs von Fatmas Mutter Gül kommen inzwischen fast ausschließlich Frauen mit einer orthodoxen Islammoral. Gül Ö. beobachtet diese Entwicklung in ihrem Viertel mit Schrecken. Immer mehr junge Menschen definierten sich ausschließlich über ihre religiöse und kulturelle Zugehörigkeit, über ihr Anderssein im Vergleich mit den Deutschen. Und es schafften immer weniger, sich über Bildung aus den Zwängen familiärer Wertvorstellungen zu befreien. Gül denkt immer öfter daran, doch wegzuziehen.
Gegenüber der Al-Nur-Moschee, nur getrennt durch die Schornsteine der Zigarettenfabrik, sitzt Besser B. allein vorm Fernseher und schaut sich eine türkische Gameshow an. Ihre Freundin Fatma M. ist für sechs Wochen in die alte Heimat geflogen. Andere Freunde hat sie nicht. Einen Grund zur Freude gibt es trotzdem für Besser. Ihre Enkelin Leyla, gerade neunzehn geworden, hat ihre Ausbildung abgebrochen und wird demnächst heiraten. Eigentlich war es der Wunsch ihres Verlobten Cevat, selber erst seit ein paar Jahren in Deutschland und arbeitslos. Er will nicht, dass seine Verlobte ein Leben außerhalb der Familie führt. Ein guter Junge sei er, schwärmt Besser, „zwar arbeitslos, aber kein Fremder, sondern einer von uns.“ Sie lächelt zufrieden. Auf die Frage, ob Leyla mit einer abgeschlossenen Ausbildung nicht besser dran wäre als mit einer Heirat, antwortet Besser: „Dafür ist es jetzt zu spät, jetzt ist sie schon verlobt. Und was sollen denn die Leute denken!“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.2009, Nr. 46, S. 46
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