Ohne Maß ist die Freiheit der Ruin
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.08.2009, Nr. 198, S. 29
Ohne Maß ist die Freiheit der Ruin
Mit ein paar Justierungen an den Stellschrauben der Regulierung wird es nicht getan sein: Die Finanzwirtschaft muss in der Krise die Lasten übernehmen - und die Verantwortung.
Von Wolfgang Schäuble
Sechzig Jahre nach ihrer Gründung erleben wir den stärksten wirtschaftlichen Einbruch in der Geschichte unserer Republik. Es ist die erste Wirtschaftskrise, die unsere freiheitliche und soziale Wirtschaftsordnung in Frage zu stellen droht. Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir vollständig verstanden haben, wie es zu dieser Systemkrise kommen konnte. Aber wenn wir die Verlässlichkeit des Finanzsystems sicherstellen und wieder begründete Zuversicht für unsere freiheitliche Ordnung gewinnen wollen, kommen wir nicht umhin, Fehlentwicklungen beim Namen zu nennen und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Viele Ursachen der Krise sind diskutiert worden: die laxe Geldpolitik der amerikanischen Notenbank, das sozialpolitisch gewollte Anheizen des amerikanischen Immobilienmarktes, die verhängnisvolle Entscheidung der Securities and Exchange Commission zur Aufhebung der Verschuldungsgrenzen für Wertpapierhandelshäuser, die Refinanzierung und weltweite Verteilung eines gigantischen Hypothekenrisikos durch Verbriefung und sogenannte Finanzinnovationen. Was den deutschen Kontext angeht, wird man einige Punkte ergänzen müssen. Zum Beispiel das Aufblähen der Landesbanken mit öffentlichen Geldern. Unter dem Damoklesschwert künftiger Beschränkungen durch die EU-Kommission wollten einige Landesbanken ein letztes Mal ein großes Rad drehen. Dabei wurden Risiken eingegangen, die nicht vernünftig waren und offenbar auch von den Aufsehern kaum verstanden wurden. Auch die immer weiter gehende Liberalisierung der Regularien für die Finanzindustrie war im Nachhinein betrachtet ein Fehler. Durch diese Entscheidungen wurden Freiräume geschaffen, die nicht verantwortlich genutzt wurden.
Was die tieferen Ursachen sind, daran scheiden sich die Geister. Viele der Übertreibungen, die zur Krise geführt haben, sind nicht ohne die Gier vieler Marktteilnehmer zu erklären und auch nicht ohne die Gier der Anleger, die sich die Chance auf Traumrenditen nicht entgehen lassen wollten - von Investmentfonds über Kleinsparer bis zu klammen Kommunen.
Manche wollen nun die verständliche Empörung hierüber dazu nutzen, den Eigennutz als Antriebsfeder wirtschaftlichen Wachstums in freiheitlichen Wirtschaftssystemen insgesamt zu diskreditieren. Doch wie eine Wirtschaftsordnung ohne gesunden Eigennutz funktionieren soll, kann niemand erklären. Was wir erleben, ist kein Wettstreit der Systeme. Die eigentliche Frage lautet: Wie schaffen wir es, dass in einer Marktwirtschaft Freiheiten verantwortlich genutzt werden?
Seit Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Ludwig Erhard lautet unsere Antwort: mit einer Sozialen Marktwirtschaft, die innerhalb des Marktgeschehens Vorkehrungen für einen verantwortlichen Umgang mit Freiheit trifft und darüber hinaus korrigierende Elemente außerhalb des Marktgeschehens vorsieht. Beide Elemente haben in der Bundesrepublik ganz wesentlich zur Herausbildung einer wirtschaftlich, sozial und politisch zur Mitte hin gerichteten, freiheitlichen und sozialen Gesellschaft geführt.
Auch die globale "Entfesselung der Märkte", die der McKinsey-Berater Lowell Bryan 1996 in seinem Buch "Markets Unbound - Unleashing Global Capital" beschrieb, hatte unter dem Strich positive Folgen für Wirtschaft und Beschäftigung in Deutschland. Der weltweite Abbau von Schranken und Regularien führte zu steigenden Investitionen, zu mehr Wachstum und, trotz des mit der globalen Konkurrenz einhergehenden Standortwettbewerbs, auch zu mehr Wohlstand. Die zunehmende internationale Vernetzung der Volkswirtschaften war für Deutschland mit seinen exportstarken Industrien eine gute Entwicklung. Ohne die Liberalisierung von Handel und Dienstleistungen, darunter auch die der Finanzdienstleistungen, wäre der Wohlstand, den wir heute genießen, nicht denkbar.
Allerdings ist das, was wir bisher als Maximum an Freiheit in unserer Sozialen Marktwirtschaft für richtig hielten, korrekturbedürftig. Wilhelm Röpke hat einmal geschrieben: "Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen - das alles sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen." Das sind hohe Ansprüche, die nicht immer zu erfüllen sind. Die freiheitliche Verfassung - dieser Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde ist zum sechzigsten Geburtstag des Grundgesetzes oft zitiert worden - lebt aber von Voraussetzungen, die sie selbst nicht zu schaffen vermag. Die Finanzkrise zeigt, dass das mutatis mutandis auch für die Soziale Marktwirtschaft gilt.
Das ist keine neue, aber eine wichtige Erkenntnis. Schon Joseph Schumpeter - darauf hat vor kurzem der Philosoph Dieter Thomä hingewiesen - hat in seinem 1942 erschienenen Buch "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" aufgezeigt, dass auch der Kapitalismus, ähnlich wie die Demokratie, kein sich selbst vollständig regulierendes und reproduzierendes System ist. Der Kapitalismus sei vielmehr auf ein gelingendes soziales Leben angewiesen, das er nicht nebenbei aus dem Ärmel schütteln könne. Schumpeter geht noch einen Schritt weiter. Der Kapitalismus sei in der Gefahr, seine Voraussetzungen zu untergraben, indem er die "Zersetzung der schützenden Schichten und Institutionen" von Wirtschaft und Gesellschaft herbeiführe. Die Rationalisierung des gesamten Lebens führe zu einer Art unausgesprochener Kostenrechnung auch im Privatleben und ziehe dadurch zwei verhängnisvolle Entwicklungen nach sich: den Aufstieg des Konsumenten und den Abstieg der Familie.
Heute würden wir vielleicht sagen: Das umlagefinanziert konsumierende Prekariat nimmt zu, die Mittelschicht gerät unter Druck, die wirtschaftliche Dynamik schwächt sich ab.
Schumpeter hat also prophezeit, wie ein Übermaß an Ökonomisierung und Gewinnstreben zur Schädigung der Grundvoraussetzungen von Wachstum und Wohlstand führt. Darüber sollten wir nachdenken. Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und darauf hoffen, dass nun alle für sich etwas aus der Krise lernen und künftig vorsichtiger sind. Der Staat ist in der Verantwortung, als Hüter und Gestalter unserer Wirtschaftsordnung Schlussfolgerungen zu ziehen, wie wir durch mäßigende Vorkehrungen künftigen Übertreibungen vorbeugen können. Wenn wir wirtschaftliche Freiheit erhalten und Dynamik wiedergewinnen wollen, brauchen wir wirksame Vorkehrungen gegen einen exzessiven Gebrauch der Freiheit. Wir müssen dafür sorgen, dass Krisen am Markt nicht systembedrohend für den Markt, Staat und Gesellschaft werden können. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass Akteure Risiken eingehen, die nicht durch ökonomische Substanz aufgefangen werden können.
Auf den internationalen Finanzmärkten ist das möglich gewesen, weil ein Grundsatz missachtet worden ist, der ein ganz wesentliches Anreizsystem für maßvolles Handeln ist: die Haftung desjenigen, der Risiken eingeht. "Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen", hat Walter Eucken gemahnt. Genau das ist durch Praktiken ausgehebelt worden, die zu den Ursachen der Krise zu zählen sind: Die wiederholte Verbriefung von Risiken hat zu einer immer schlechteren Nachvollziehbarkeit der ihnen entgegenstehenden Sicherheiten geführt. Dadurch sind die Risiken unüberschaubar geworden, und als es schiefging, wurde jegliches Vertrauen auch der Banken untereinander zerstört. Wir brauchen also Vorkehrungen, die den Zusammenhang von Nutzen und Schaden, von Risiko und Haftung wiederherstellen. Sinnvoll wäre eine Beschränkung der Weitergabe von Risiken, die ohnehin eher dem Wesen des Versicherungsgeschäfts als dem eigentlichen Bankgeschäft entspricht. Wir werden auch eine bessere Aufsicht über solche Geschäfte brauchen. Und wir müssen sicherstellen, dass keine Risiken eingegangen werden können, die nicht am Ende mit einer ausreichenden Kapitaldeckung unterlegt sind. Vielleicht müssen wir dazu auch das Gesellschaftsrecht und das Strafrecht verschärfen, um Geschäfte zu Lasten Dritter wirksamer abzuschrecken.
Allerdings dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass es mit ein paar Justierungen an den Stellschrauben der Finanzmarktregulierung getan sein wird. Auch eine Überregulierung, die zwangsläufig zu erheblichen Wachstumsverlusten führen muss, würde das Problem nicht lösen. Wir müssen ein weiteres Kernproblem angehen, und das ist die mangelhafte Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Transaktionen und den dahinter stehenden Mechanismen. Viele Anleger haben sich auf hochriskante Geschäfte eingelassen, weil eine "AAA"-Bewertung einer der großen Ratingagenturen suggerierte, verbriefte ausfallgefährdete Kredite seien nicht besonders riskant.
Hier ist die Finanzindustrie gefordert, durch Transparenz die Nachvollziehbarkeit von Bewertungen, Berechnungen und Transaktionen wiederherzustellen. Wenn das nicht passiert, werden sich Banken und Finanzdienstleister nicht von dem Vertrauensschaden erholen, den sie angerichtet haben.
Fortsetzung auf Seite 31.
Mehr Transparenz ist letztlich auch der einzige Schutz davor, dass sich Blasen so lange aufblähen, bis ihr Platzen zur Systembedrohung wird. Die Aufgabe der Bewertung und damit letztlich der Entscheidung über die Vertretbarkeit von Risiken auf Dritte zu verlagern, insbesondere Ratingagenturen, hat nicht funktioniert. Deren Ratingnoten beruhten offenkundig nicht auf ausreichenden Informationen. Die immer weiter zunehmende Spezialisierung und die Informationsrevolution haben im Finanzsystem dazu geführt, dass Intuition und Urteilsfähigkeit vieler tausend Bankmitarbeiter ersetzt wurden durch mathematische Risikomodelle und Risikobewertungen einer kleinen Zahl an Spezialisten. So hat sich in unsere eigentlich auf Dezentralität und Vielfalt zielende marktwirtschaftliche Ordnung eine Zentralisierung eingeschlichen, durch die nicht einmal eine Handvoll Ratingagenturen zu einer Art Zentralrechner des Finanzsystems wurden. Vergeben wurden die Ratingnnoten aber von Menschen - mit all den Fehlern und Irrtümern, die nun einmal menschlich sind.
Die Agenturen und ihre Kunden haben diese Ratingergebnisse gleichwohl für unfehlbar gehalten und auf dieser Grundlage Wetten auf zigfach überzeichneter Kapitalbasis abgeschlossen. Deshalb brauchen wir eine Dezentralisierung der Bewertung von Risiken. Denn wenn es zwangsläufig ist, dass Menschen sich irren, dann ist es besser, wir dezentralisieren Entscheidungen. Im Wettbewerb zeigt sich dann, welche Entscheidungen besser und welche schlechter waren. Die Besseren gewinnen, und das Scheitern der Schlechteren reißt nicht gleich alle in den Abgrund.
Auch dem Konzentrationsprozess in der Finanzindustrie müssen wir entgegenwirken. Er hat insbesondere im britisch-amerikanischen Bankensektor Einheiten geschaffen, die sich nicht nur als "too big to fail" erwiesen, sondern auch als "too big to function". Sie waren nicht mehr in der Lage, die von ihnen eingegangenen Risiken zu übersehen und in verantwortbaren Grenzen zu halten. Zugleich wurde durch mangelnden Wettbewerb offenbar der Preisfindungsmechanismus eines funktionierenden Marktes ausgehebelt. Er hätte Überbewertungen zumindest dieser Größenordnung verhindern müssen. Statt über eine Verstaatlichung weiterer privater Banken oder eine Konzentration staatlicher Banken nachzudenken, müssen wir Dezentralität und Subsidiarität auch im Finanzwesen stärken.
Wenn wir die Krise bewältigen und die von Schumpeter umschriebenen Voraussetzungen unserer Sozialen Marktwirtschaft erhalten wollen, brauchen wir außerdem wieder stärkere Anreize für nachhaltiges Wirtschaften. In vielen börsennotierten Unternehmen hat sich im Zuge der Entfesselung der Märkte und der Verabsolutierung des Gewinnstrebens ein kurzfristiges, kurzsichtiges Denken durchgesetzt. In der Finanzindustrie etwa entfallen die meisten Bonuszahlungen auf Transaktionen, deren Profitabilität heute nur vermutet werden kann. Ebendeshalb gibt es für viele Papiere, die vor einem Jahr noch einen funktionierenden Markt hatten, aktuell keine Käufer. Sie hängen, auf der Basis komplexer mathematischer Verknüpfungen, von der Entwicklung bestimmter Faktoren ab - etwa vom Preis bestimmter Rohstoffe oder der Entwicklung der Nachfrage für bestimmte Produkte. Wenn aber die Grundlage dieser Papiere schwankungsanfällig ist, spricht vieles dafür, auch die Anreize, die über den Mechanismus des Eigeninteresses wesentlich zum Verkauf der Papiere beitragen, an das Schwanken zu koppeln. Dann materialisiert sich die Provision für einen Verkauf nicht schlagartig, sondern über Zeit und in genau dem Maße, in dem sich Wertschöpfung einstellt. Dann führt der Mechanismus des Eigeninteresses zu einem Wettbewerb um wirklich nachhaltig wirtschaftliche Anlagen.
Grundsätzliche Fragen stellen sich aber nicht nur in der Finanzindustrie: Was hilft es einem Unternehmen, wenn es bestimmte Steigerungsraten erreicht, dabei aber die Eigenkapitalbasis ausgelaugt wird? Rechtfertigt ein höherer Marktanteil Vertriebsmethoden, die zu scharfen Konflikten mit Wettbewerbern, Mitarbeitern und Kunden führen? War der Nutzen, den bestimmte Unternehmen aus der Überwachung der Aktivitäten von Mitarbeitern gezogen haben, wirklich größer als der Verlust an Mitarbeitermotivation, Kundenbindung und öffentlichem Vertrauen? Auch die Geschichte zweier Familienunternehmen, die mit Hilfe des Kapitalmarkts zwei weit größere Unternehmen schlucken wollten, führt hoffentlich zu einem Umdenken und zu nachhaltigeren Anreizstrukturen in den Unternehmen. Ob das gelingt, wird in vielem davon abhängen, wer die Lasten für die Bewältigung der aktuellen Krise trägt. Hier sind in erster Linie Finanzdienstleister und Anleger gefragt.
Offenkundig haben wir auch einen Punkt erreicht, wo es ohne den Staat nicht mehr geht. Das darf aber nicht gleichbedeutend sein damit, dass die Steuerzahler auch für alle Kosten notwendiger Rettungsmaßnahmen aufkommen. So würde nicht nur gegen ein elementares Gerechtigkeitsprinzip verstoßen; zugleich würde ein Anreizsystem dafür geschaffen, so weiterzumachen wie bisher. Deshalb habe ich mich innerhalb der Bundesregierung dafür eingesetzt, bei allen Stabilisierungsmaßnahmen zwei elementare Prinzipien unserer Sozialen Marktwirtschaft einzuhalten: Subsidiarität in der Aufarbeitung durch den Grundsatz der Freiwilligkeit und Rückbindung des Ergebnisses der Aufarbeitung an das Kapital derjenigen Unternehmen, die nicht ohne Hilfe des Staates stabilisiert werden können. Jede andere Lösung würde aus meiner Sicht zwei Grundprinzipien unserer freiheitlichen Ordnung gefährden: die Allgemeinverbindlichkeit und die allgemeine Akzeptanzfähigkeit der Regeln in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.
Schon die Philosophen der Antike sahen darin den Schlüssel zu einem intakten Gemeinwesen. In der Geschichte unseres Landes war es genau dieses Einverständnis, das die unglaubliche Aufbauleistung nach der totalen Niederlage und moralischen Zerstörung des Zweiten Weltkriegs möglich gemacht hat. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Krise die Akzeptanz des Rechts und das Bejahen unserer freiheitlichen Ordnung untergräbt.
Wir müssen aufpassen, dass wir auf sie auch nicht überreagieren und in ein anderes Extrem verfallen. Noch schlimmer für das Vertrauen der Menschen in unsere Ordnung wäre es nämlich, wenn der Staat durch Überschuldung seine Handlungsfähigkeit einbüßen würde. Nur wenn der Staat leistungsfähig bleibt, kann er auch erfüllbaren Erwartungen gerecht werden. Dazu muss er sich auf Notwendiges beschränken.
Die Entfesselung der Märkte hat auch dazu geführt, dass viele dachten, erst das Maximum sei genug. Wer vom rechten Maß, von Mitte und Balance sprach, galt bestenfalls als gestrig. Jetzt, wo die gewaltigen Risiken des Hinterherjagens nach Extremen - seien es Renditen, Steigerungsraten oder Lohnzuwächse - deutlich geworden sind, gibt es vielleicht die Chance auf einen neuen wirtschafts- und sozialpolitischen Konsens. Voraussetzung dafür ist, dass neues Vertrauen entsteht. Hier sind besonders all jene gefordert, die in unserer Gesellschaft eine herausgehobene Position innehaben. Aufgabe beruflicher Eliten ist es immer auch, ein Berufsethos zu entwickeln, das ihr eigenes Handeln mit allen seinen Konsequenzen in Beziehung zur Gesellschaft setzt.
Vielleicht hat man bei der Deregulierung versäumt, den von diesem Freiheitsgewinn besonders profitierenden Eliten die Notwendigkeit eines Ethos zu verdeutlichen. Ohne Ethos gehen nicht nur verantwortlichem Handeln zugrundeliegende Prinzipien verloren, sondern auch der Eigenwert eines Berufsstandes in einer freiheitlichen Gesellschaft. Ohne verantwortliche Berufsstände gerät die Berufswelt zum Einerlei; die von ihnen erbrachten Dienstleistungen werden verwechselbar und beliebig ersetzbar.
Weil Diversifizierung Nachhaltigkeit sichert, sollten wir ordnungspolitisch nicht alles über einen Leisten schlagen. Markt und Wettbewerb sind die Voraussetzung für wirtschaftliche Effizienz. Eine Ordnung, die Vielfalt gewährleistet, stabilisiert diesen Rahmen. Deswegen sollten wir weder unter dem Stichwort "Deregulierung" jede berufsrechtliche Ordnung bei freien Berufen wie dem Handwerk abschaffen noch unter überzogenen Renditeerwartungen die Gliederung unseres Bankensystems grundsätzlich in Frage stellen.
Auch eine Rückbesinnung auf die Raison d'être des Finanzwesens ist im ureigensten Interesse der Finanzindustrie selbst. Nicht das Leitbild des Bankers, sondern des Bankiers sollte wieder Vorbild sein. Wenn wir die von Schumpeter umschriebenen Voraussetzungen unserer Ordnung schützen wollen, brauchen wir eine neue Kultur der Mäßigung und Verantwortung. Ohne Grenzen und ohne die freiwillige Einhaltung von Grenzen kommt keine freiheitliche Ordnung aus.
Die wirksamste Vorkehrung gegen Schumpeters "Zersetzung" der Voraussetzungen unserer Ordnung sind letztlich nicht Gesetze und Vorschriften, sondern Werte, die wir in Familie und Gesellschaft glaubhaft leben und vermitteln müssen. Dieter Thomä spricht von "uralten, ewig jungen, Tag für Tag sich bewähren sollenden Vorstellungen vom guten Leben". Für mich als Christdemokraten sind es die Orientierung an Maß und Mitte, die Vermeidung von Übertreibungen und die Besinnung auf das bonum commune unserer Republik, den Einklang von Freiheit und Verantwortung.
Der Autor ist Bundesminister des Innern.
Kastentext:
Wir dürfen im Namen der "Deregulierung" nicht jede berufsrechtliche Ordnung bei freien Berufen wie dem Handwerk abschaffen.
Die Geschichte zweier Familienunternehmen, die weit größere Unternehmen schlucken wollten, führt hoffentlich zum Umdenken.
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