Ein Gespräch mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger James M. Buchanan
Wir müssen uns vor der Tyrannei der Mehrheit schützen
Am 3. Oktober wird James M. Buchanan neunzig Jahre alt. Im Gespräch blickt der politische Philosoph zurück: auf seine Südstaaten-Mutter, die Lincoln hasste, auf den Zufall, der den Farmersohn zum Studenten der Ökonomie machte, auf seinen Wandel zum Liberalen in Chicago, auf die prägende Jahre im respektlosen Italien. Dabei hat der Theoretiker der öffentlichen Wahlhandlungen sein Lebensthema fest im Blick: wie wir Individualisten lernen, friedlich miteinander auszukommen.
Professor Buchanan, wie sind Sie zur Ökonomie gekommen?
Es gab überhaupt keinen Anstoß. Als ich mit der Schule fertig war, war die Weltwirtschaftskrise im Gange, und ich konnte es mir finanziell nicht leisten, mich am Vanderbilt College in Nashville, Tennessee, einzuschreiben und Jura zu studieren, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte. Das Einzige, was mir blieb, war der Besuch des Lehrerkollegs zu Hause in Murfreesboro. Als Hauptfächer hatte ich Mathematik, Literatur und Gesellschaftswissenschaften. Nach vier Jahren dort boten sich mir drei Möglichkeiten: Ich konnte als Lehrer arbeiten, in einer Bank, oder ich konnte mit einem Stipendium an der University of Tennessee Wirtschaftswissenschaften studieren. Mir war das Fach egal, ich hätte das Stipendium so oder so genommen. Das war mein Weg zur Ökonomie. Reiner Zufall.
Aber eine gewisse Offenheit mussten Sie schon mitbringen, sonst hätten Sie am Ende wohl als Lehrer gearbeitet. War die Weltwirtschaftskrise vielleicht ein Thema bei Ihnen zu Hause?
Ich glaube nicht. Unsere Verhältnisse waren nicht so. Obwohl meine Mutter eine brillante Frau war, eine leidenschaftliche Leserin, die alles verschlang, von Schund bis hin zu echter Literatur. Sie interessierte sich für absolut alles. Sie kam aus einer Familie der oberen Mittelschicht, die Männer waren Hilfssheriffs und Prediger. Mein Dad las gerade einmal die Zeitung. In Diskussionen machte er keine besonders gute Figur. Er hatte nur zwei Jahre an der University of Oklahoma studiert - und Fußball gespielt.
Ihre Familie lebte auf einem Bauernhof?
Ja, wir bewirtschafteten eine Farm. Allerdings gehörte sie uns nicht, sie gehörte der ganzen Sippschaft. So hatte mein Vater wenig Anreiz, die Farm gut in Schuss zu halten. Wir verkauften Milch; damit verdienten wir am meisten. Außerdem hatten wir ein bisschen Baumwolle und Mais, das Übliche. Aber mein Dad war kein geborener Farmer.
War das ein Leben in Armut?
In großer Armut. Meine Mutter war dabei enorm fleißig; sie war ständig am Arbeiten. Ich habe das von ihr. Doch mein Vater liebte das Faulenzen.
Ein widersprüchliches Gespann!
O ja! Vor ihrer Heirat hatte meine Mutter neun Jahre als Lehrerin gearbeitet. Sie war eine starke intellektuelle Kraft. Mein Vater blickte stets zu ihr auf. Er verdiente das Geld, aber ihm war klar, dass sie schlauer war als er, und so ließ er sie stets gern entscheiden. Er litt nicht unter dieser Rollenverteilung, er war sehr gutaussehend und sehr selbstbewusst.
War es damals ein klares Ziel, dass Sie als Sohn eine höhere Ausbildung bekommen sollten?
Das war nicht nur ein Ziel, es wurde vorausgesetzt.
Sie sollten also nicht selbst auch Bauer werden?
O nein, niemals! Ich sollte mit meiner Ausbildung so weit gehen wie nur irgend möglich. Meine Mutter hatte all ihren Ehrgeiz auf mich gerichtet. Sie gestattete nicht, dass ich wegen der Feldarbeit auch nur einen Schultag verpasste. Und ich ging gern zur Schule.
Hatten Sie einen Jugendtraum, was Sie einmal werden wollten?
Kaum. Damals war man ja schon froh, wenn man irgendwie überlebte und einen Job bekam. Ich erinnere mich nur, dass ich dachte, ein Dasein als College-Professor wäre nicht schlecht. Mein Politikprofessor, dem ich das Stipendium für die University of Tennessee verdanke, verdiente 3600 Dollar im Jahr. Damals war das eine phantastische Summe. Und so dachte ich, es wäre wundervoll, eines Tages eine solche Stellung zu haben.
Als Sie später im College mit Wirtschaft in Berührung kamen, was haben Sie da gelernt?
Nichts. Absolut nichts. Unser Professor war ein pensionierter Prediger, er hatte nicht den Hauch einer Ahnung. Aber auch an der University of Tennessee, wo ich dann studierte, erfuhr ich nichts von Wirtschaft. Ich habe erst Ökonomie gelernt, als ich in Chicago war.
Aber irgendwie müssen Sie doch auf den Geschmack gekommen sein!
Nicht wirklich. In meinem zweiten Universitätsjahr hatte ich ein Stipendium an der Columbia University, für das Fach Statistik. Ich hätte auch das bestimmt genossen. Jede intellektuelle Erfahrung ist bereichernd. Aber dann wurde ich zum Kriegsdienst eingezogen. Normal hätte ich zur Armee gemusst, doch ich wollte zum Offizierstraining der Marine. Eigentlich war mein Blutdruck zu hoch dafür. Aber mein Onkel, der Arzt war, gab mir eine Tablette, mit der ich in der Gesundheitsprüfung schummeln konnte, und so klappte es.
War der Kriegsdienst ein großes Opfer für Sie? Immerhin unterbrach er Ihre Ausbildung.
Nein, denn es waren prägende und sehr, sehr gute Jahre für mich von 1941 bis 1945. Zuerst wurden wir drei Monate in einer Offiziersschule in New York unterrichtet. Schon im ersten Monat erlebte ich dort freilich echte Diskriminierung, und das regte mich furchtbar auf. Wenn es etwas gibt, was ich nicht ausstehen kann, dann ist es Ungerechtigkeit. Egal, ob es dabei um mich selbst geht oder um jemanden anders.
Worum ging es?
Zwanzig Jungs in unserer Gruppe waren Absolventen von Yale, Harvard und Princeton, diesen Colleges des Ostküsten-Establishments, und am Ende der Grundausbildung wurden zwölf oder dreizehn von ihnen befördert. Das stand in keiner Relation zur Grundgesamtheit von sechshundert, die wir in der Gruppe waren. Es war eine offene Diskriminierung aller, die nicht von den Ostküsten-Colleges kamen. Mich machte das zum flammenden Kommunisten.
Sie?
O ja! Wenn jemand gerade Mitglieder geworben hätte, hätte ich mich sofort angemeldet. Ich neigte politisch ohnehin stark nach links. Aber durch diese Diskriminierung war das noch einmal intensiver geworden. Ich glaube, ich empfand das stärker als manch anderer. Selbst heute kann ich den Zorn noch in mir fühlen. Ich werde das wohl niemals los.
Wieso neigten Sie schon vorher nach links?
Das hatte etwas mit meinem Hintergrund zu tun, der von der "Populist Party" geprägt war. Ich war aufgewachsen mit all diesen Pamphleten über die bösen "Wall Street Barons" und "Rubber Barons". Außerdem war der Süden Amerikas damals voll in der Hand der Demokraten. Auch als ich begann, mich für Wirtschaft zu interessieren, änderte sich das nicht. Alle in meinem Umfeld waren Sozialisten. Wir erkannten nicht, was wirklich los war. Russland war unser Ideal. Ich fing sogar an, Russisch zu lernen.
Nach dem Krieg gingen Sie nach Chicago. Wieso? War Columbia jetzt nicht mehr reizvoll?
Stimmt, ich hatte dieses Stipendium, aber ich mochte New York nicht. New York ohne Geld ist heute kein schöner Ort und war es damals ebenso wenig. Und mein College-Professor hatte in Chicago studiert. Er hatte mir vermittelt, wie spannend es dort war. Er hatte recht. Kein Zweifel, in Chicago herrscht die aufregendste intellektuelle Atmosphäre der Welt, auch heute noch. Ich wusste damals gar nichts über die ökonomische Fakultät. Hätte ich geahnt, dass sie liberal geprägt war, hätte ich mich für eine andere Universität entschieden.
Wer war da und hat Sie inspiriert?
Frank Knight war da. Er wurde mein Vorbild. Und als ich schon mit allen Fächern durch war, kam auch noch Milton Friedman. Man riet mir, bei ihm noch einmal Preistheorie zu belegen. Es hat sich gelohnt, er war ungeheuer gründlich.
Ich nehme an, das war dann das Ende Ihrer sozialistischen Neigungen.
Ich war in null Komma nichts umgedreht. Aus irgendeinem Grund war ich wohl auch dafür konditioniert, die Funktionsweise des freien Markts zu begreifen und anzunehmen.
Hat die Tatsache, dass Sie Südstaatler sind und gleichsam ererbtermaßen größten Wert auf Unabhängigkeit legen, etwas damit zu tun?
Ohne Zweifel. Das geht alles auf meine Mutter zurück. Sie war in dieser Südstaatenkultur groß geworden. Sie hasste Abraham Lincoln mit Leidenschaft. Der war zwar schon seit drei Generationen tot, aber diese tiefe Abneigung war trotzdem fester Bestandteil ihres Denkens. Dabei ging es gar nicht um die Abschaffung der Sklaverei. Es ging darum, dass Lincoln, die Personifizierung der Yankees, die Südstaaten in den Krieg gezwungen hatte. Das verband sich bei mir dann noch mit dem Einfluss der "Populist Party", die den Geldadel der Wall Street und das Ostküsten-Establishment aufs Korn nahm. Ich habe im Leben meine Einstellungen zu alldem von Grund auf überdenken müssen. Lincoln habe ich immer mehr und mehr schätzen gelernt.
Zurück nach Chicago. Wieso wählten Sie die Finanzwissenschaft als Spezialgebiet?
Das war wieder Zufall. Ich bekam eine Assistentenstelle am Lehrstuhl für Finanzwissenschaft. Ich schrieb dann meine Dissertation über Fiskalföderalismus, also darüber, wie Staaten, die über eigene Steuerhoheit verfügen, mit einer übergeordneten Bundesregierung interagieren.
Wie war das politische Klima in der Universität? Welche Wirkung hatte der Keynesianismus?
Der Keynesianismus war gar nicht richtig angekommen. Die meisten Professoren glaubten, es lohne sich gar nicht, sich damit zu beschäftigen.
Wie sind Sie der Mathematisierungswelle entgangen?
In Chicago habe ich mich nicht weiter mit Mathematik beschäftigt. Man sagte mir, was ich schon gelernt hätte, reiche aus. Das stimmte nicht ganz, und insofern ist das ein bisschen dumm gelaufen für mich. Ich habe nie eine negative Einstellung zur Mathematik gehabt. Ich hatte allerdings auch nie das Gefühl, sie häufig benutzen zu müssen.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich theoretisch mit dem Staat zu befassen?
Damit beschäftigte sich damals niemand. Dabei war die Kluft zwischen der Art und Weise, wie die Wirtschaft modelliert wurde, und den Vorstellungen, die man über den Staat hegte, so groß, dass man mit einem Lastwagen hätte hindurchfahren können. Irgendwie mussten wir versuchen, auch kollektives Handeln unter Berücksichtigung aller relevanten Anreizstrukturen zu beschreiben und zu erklären. Es ging damit los, dass ich 1948 einen Band von Knut Wicksells "Finanztheoretischen Untersuchungen" in der alten Harper Library in Chicago fand.
Wicksell hatte sich mit dem Einstimmigkeitsprinzip in kollektiven Entscheidungen befasst. Nur Einstimmigkeit gibt Politik direkte, vollumfängliche Legitimität. Aber wieso haben Sie da gleich angebissen?
Ich glaube, das hatte wieder mit meinem Südstaatenhintergrund zu tun. Ich suchte einen Erklärungsansatz, mit dem sich ein Gewaltmonopol logisch als legitim begründen lässt. In weltanschaulicher Hinsicht bin ich so etwas wie ein Anarchist und ein hochgradiger Individualist obendrein. Wenn man mit dieser Grundeinstellung ausgestattet ist, braucht man eine explizite Erklärung, wieso es im Staat möglich und sogar legitim sein soll, andere Menschen zu etwas zu zwingen. Mit dem Ansatz, den ich entwickelt habe, ist es möglich, sich eine kollektive Ordnung vorzustellen, der alle Leute zustimmen. Dann handelt es sich bei staatlichem Zwang nicht mehr um Zwang, sondern um einen Gesellschaftsvertrag.
Zumindest hypothetisch. Aber das reicht doch nicht.
Hypothetische Zustimmung ist als Kriterium besser, als wenn man nur postuliert "Ich will das so" oder "Gott will es so". Sie gibt uns wenigstens einen Kompass, der anzeigt, wo wir uns normativ verorten sollten. Dies ist analog zur Fiktion des "unparteiischen Beobachters" bei Adam Smith und des "Schleiers des Nichtwissens" bei John Rawls. Echte Zustimmung wäre natürlich besser, aber das ist ein sehr aufwendiger Maßstab.
Sie hatten Ihren ersten Lehrstuhl daheim in Tennessee, und dann gingen Sie nach Florida. Wieso Florida?
Ich weiß nicht. Aber es war eine der besten Entscheidungen, die ich je gefällt habe. Ich hatte dort zwei Kollegen, die begriffen hatten, dass es in der akademischen Welt entscheidend ist, zu publizieren. Wir schrieben ein Lehrbuch zusammen. Und ich durchlief eine Art Metamorphose. Plötzlich fand ich Gefallen am Schreiben. Außerdem war auch die wissenschaftliche Debatte damals ausnehmend spannend. Kenneth Arrow hatte 1951 seine Dissertation herausgebracht.
Darin ging es um die logische Unmöglichkeit, im demokratischen Prozess die Wünsche der Bürger widerspruchsfrei zu "aggregieren".
Ja. Mir gefiel Arrows Tenor nicht. Dass eine logisch widerspruchsfreie Aggregation der Präferenzen aller Bürger nicht möglich ist, ist ja klar - und auch gut so.
Weil es sonst im politischen Prozess keine Möglichkeit gäbe, Meinungen zu revidieren und neue Ansätze auszuprobieren. Weil wir sonst eine politische Planwirtschaft haben könnten.
Genau. Ich störte mich daran, dass Arrows Arbeit auf eine Rechtfertigung dafür hinausläuft, dass eine Mehrheit einer Minderheit ihren Willen aufdrängen kann. Hier zeigte sich wieder meine Südstaaten-Prägung . . . Mein Denken ist vollkommen davon durchdrungen, dass es stets darum gehen muss, Minderheiten vor der Tyrannei der Mehrheit zu schützen. Ich wollte den Zwang minimieren, den Menschen über Menschen ausüben. Ich habe immer sehr empfindlich darauf reagiert, wenn Minderheiten unterdrückt werden oder Unterdrückung gerechtfertigt werden soll. Ich schrieb damals zwei Aufsätze darüber, die außer Amartya Sen niemand verstand. Wie auch immer, für mich war das damals eine entscheidende Wende.
Wie empfänglich waren Ihre Kollegen in der Wissenschaft für Ihren Gegenansatz?
Gar nicht. Aber wenn ich selbst mir heute ansehe, was ich damals geschrieben habe, dann finde ich wirklich, dass es das Beste ist, was ich je gemacht habe. Zudem waren die fünfziger Jahre für mich wichtig, weil sie mein Wertesystem zurechtgerückt haben.
Wie das?
Nach einem Jahr in Italien 1955 war ich endlich emotional bereit, einige der sakrosankten Annahmen über die amerikanische Demokratie auf den Prüfstand zu stellen. In vielen Leuten, und auf jeden Fall auch in mir, war das Gefühl tief verwurzelt, dass man den Staat und das kollektive Handeln nicht kritisch in Frage stellen darf. Ganz im Gegenteil, man ist allgemein erst einmal von einer gewissen Bewunderung und Ehrfurcht gegenüber der Obrigkeit geprägt; der Staat "muss" einfach wohlwollend sein. Die Italiener haben mir das ausgetrieben. Sie respektierten gar nichts, den Staat nicht, die Politiker nicht, die Politik nicht.
Welche Inspiration zogen Sie daraus, als Sie wieder zurück in Amerika waren?
An der University of Virginia traf ich Rutledge Vining. Er war ebenfalls ein Schüler von Frank Knight. Knight hatte besonderen Wert auf Regeln gelegt. Vining griff das auf und postulierte, ein Kollektiv dürfe sich nur auf Regeln einigen, nicht auf partikuläre Eingriffe. Hier knüpfte ich an und begann, über Regelsysteme nachzudenken, über Verfassungen und so weiter.
In Deutschland nennt man das Ordnungstheorie. Mir scheint, Sie haben viel von anderen Leuten gelernt. Intellektueller Austausch ist in der Wissenschaft sehr wichtig, nicht wahr?
O ja! Gordon Tullock war noch so ein Sparringspartner. Ende der fünfziger Jahre schrieben wir gemeinsam das Buch "Calculus of Consent".
Das war die eigentliche Geburtsstunde der Theorie der öffentlichen Wahlhandlungen (Public Choice). Wie waren die Reaktionen?
Das Buch bekam erstaunlich gute Besprechungen. Die Politologen schienen ein bisschen verängstigt. Dabei haben wir gar nichts Revolutionäres gemacht. Wir haben einfach nur die Gedankenwelt von James Madison in moderne Sprache übersetzt. Es war bloß eine Verteidigung der amerikanischen Verfassung, die allem staatlichen Handeln Grenzen setzt und die individuelle Freiheit schützt. Insofern war es allerdings auch ein Angriff auf die unbeschränkte Mehrheitsregel.
Durch alles, was Sie geschrieben haben, zieht sich Ihr prononcierter Individualismus. Wie begründen Sie ihn philosophisch?
Ich vertrete das, was Philosophen heute "ontologischen Individualismus" nennen. Ich weiß nicht, wie man etwas anderes sein könnte als ein ontologischer Individualist. Es geht hier gar nicht um Normen. Es geht nur um einen logischen Ausgangspunkt für unser Denken. Es ist einfach eine Tatsache. Wir alle sind Individuen. Das gilt selbst in kollektiv geprägten Gesellschaften. Selbst wenn man sämtlichen Nutzen nicht aus dem eigenen, sondern dem Wohlbefinden der Gruppe zieht, geht es immer noch um die individuellen Empfindungen.
Sind Sie nicht auch von Friedrich August von Hayek beeinflusst?
Ja, dieser Einfluss begann in den sechziger Jahren. Hayeks Idee der "spontanen Ordnung", die sich im freiwilligen Austausch in Marktprozessen ergibt, fügte sich in mein Denken nahtlos ein. Mein Thema war, dass wir uns mehr mit Austauschprozessen befassen sollten, nicht mit Wahlhandlungen. Natürlich wählt man, wenn man tauscht, aber von zentraler Bedeutung ist bei alledem die Institution, die Austauschprozesse ermöglicht.
Was hat Sie optimistisch gemacht, dass bessere Verfassungsregeln unser gesellschaftliches Miteinander verbessern könnten? Ihr Argument ist doch, dass man die "spontane Ordnung" zulassen und sich folglich als Kollektiv nur auf Regeln, nicht auf Endergebnisse verständigen darf. Aber in gewisser Weise sind Regeln doch auch Ergebnisse, oder?
Ja. Es ist ein infiniter Regress.
Und wie kommt man da wieder heraus?
Gar nicht. Man kann sich auf der prozesspolitischen Ebene umtun und die Regeln, die herrschen, zu "relativ absoluten Absolutheiten" erklären. Das ist natürlich eine Ausflucht, aber es hilft. Auf dieser Grundlage kann man nämlich Politikoptionen vergleichen und sie im Licht bestimmter Werte beurteilen. Auf der Regelebene, der ordnungspolitischen Ebene, kann man verschiedene Ordnungen und ihre jeweiligen Ergebnisse vergleichen. Und dann kann man sich auch noch normativ mit den Prinzipien befassen, nach denen Regeln entwickelt werden, wie das John Rawls gemacht hat. Auf dieser Ebene finde ich, dass es ausreicht, sich auf abstrakte Verfahrensregeln zu einigen, einfach weil sie als allgemein und gerecht anerkannt werden. Rawls indes will festlegen, was das Ergebnis dieser Verfahrensregeln ist.
Wie würden Sie den Prozess beschreiben, der Sie in Ihrer Forschung von einem Projekt zum nächsten geführt hat?
Es ging immer darum, logische Lücken in einer Theorie zu füllen. Man schreitet voran, indem man versucht aufzuklären, was zunächst wie ein Widerspruch erscheint. Im Rückblick scheint so ein Weg natürlich viel kohärenter, als man es sich unterwegs jemals hätte träumen lassen. Man treibt mehr, als dass man steuert. Und während man so dahintreibt, entdeckt man immer mehr Dinge, die einen interessieren. Ich genieße es, Ideen auszuarbeiten und aufzuschreiben. Das Vergnügen, das ich beim Verfassen von Aufsätzen empfinde, ist sehr wichtig für mich, jenseits der logischen Kohärenz. Viele meiner Kollegen können eigentlich nicht schreiben. Es macht kaum noch Spaß, ökonomische Arbeiten zu lesen.
Jenseits des Mainstreams, gerade in den "heterodoxen" Gebieten, wie Sie sie vertreten, hat die Ökonomie erhebliche Fortschritte gemacht. Sind noch Fragen offen?
Aber ja! Wir Menschen haben ja immer noch nicht gelernt, in der Gesellschaft friedlich zusammenzuleben. Wir können uns also ruhig darauf verlassen, dass es wieder etwas Neues zu erklären geben wird. Ich weiß sowieso nicht, was "Fortschritt" wirklich bedeutet. Alle wissenschaftliche Erkenntnis ist immer nur vorläufig. Physiker mögen glauben, dass sie irgendwann einmal alles werden erklären können. Ich halte derlei für ausgemachten Unsinn. Wenn man die Evolution anerkennt, dann weiß man auch, dass man von seinem Hund nicht erwarten kann, dass er aufsteht und anfängt, deutsch zu sprechen. Denn der Hund ist genetisch nicht dafür programmiert. Wir sind menschliche Tiere, und auch wir sind begrenzt in unseren genetisch angelegten Fähigkeiten. Per Definition gibt es Bereiche der Erkenntnis, in die wir nie werden vordringen können. Wenn man weiß, dass es diese Grenzen gibt, kann man zwar versuchen, sie immer weiter hinauszuschieben - aber mehr auch nicht.
Das Gespräch führte Karen Ilse Horn, Leiterin des Hauptstadtbüros des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Das vollständige Interview wird demnächst in ihrem Buch "Roads to Wisdom, Conversations with Ten Nobel Laureates in Economics" im Verlag Edward Elgar erscheinen.
Kastentext:
Viele meiner Kollegen können eigentlich nicht schreiben. Es macht kaum noch Spaß, ökonomische Arbeiten zu lesen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.08.2009, Nr. 185, S. 30
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