Schatten des Hoxeler Eisenbahnviadukts
Per Los nach Europa
Von Hans D. Barbier
In vier Tagen findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre eine solche Mitteilung von nicht wenigen Wahlberechtigten als eine Meldung mit überraschendem Neuigkeitswert wahrgenommen worden. Zur Europa-Wahl musste noch am Vorabend wirklich laut gerufen werden. Da hat sich mittlerweile einiges zum Besseren im Sinne der Aufmerksamkeit für "Europa" getan.
Die Meinung vieler Bürger, es sei nicht so recht für ihre Mitwirkung als Wähler bestimmt, was sich da irgendwo in den Tiefen von Verträgen tut, die vielleicht schon lange, vielleicht aber auch noch gar nicht ratifiziert sind, bestimmt allerdings immer noch ein gerütteltes Maß an Abstand zwischen Europa und seinen Bürgern. Als Raum für die Wahrnehmung von Reisefreiheiten, von Lebens- und Erwerbschancen ist Europa vielen Bürgern in allen Mitgliedsländern nähergerückt. Als ordnungsrelevante Rechtsfigur ist das politisch gestaltete Europa indessen nicht gerade ein Muster an Bürgernähe geworden. Das tut dem Wert Europas als Einigungswerk nicht gut.
Die politischen Stiftungen in Deutschland sind daher bemüht, die empfundene Entfernung zwischen "Europa" und seinen Bürgern zu verringern. Das ist eine verdienstvolle Aufgabe. Denn was die "Idee Europa" wert ist, liegt an der Qualität der Ordnung, die aus der Verwirklichung dieser Idee entspringt. Dieser Prozess ist ohne Bürgerinteresse nicht zu wecken und nicht wachzuhalten. Die "Friedrich Naumann-Stiftung für die Freiheit" - die politische Stiftung der Liberalen - hat jetzt unter dem naheliegenden Titel "Für ein Europa der Freiheit" ein Bändchen herausgebracht, in dem Fragen zu den Qualitätsbedingungen und den Qualitätsaussichten der europäischen Ordnung aufgeworfen und aus liberaler Sicht beantwortet werden.
Nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern in der Zustimmung zu seinem Hang zur Zuspitzung seien hier einige Thesen von Roland Vaubel, dem Inhaber des Lehrstuhls für "Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie" an der Universität Mannheim, vorgestellt. Vaubel beklagt - beileibe nicht als einziger der Autoren des Bändchens, aber eben besonders lebhaft - den Machtzuschnitt der Kommission, der sich aus der ordnungspolitisch unguten Kombination von gesetzgebenden, ausführenden und quasijudikativen Funktionen erkläre. Die Kommission, stellt Vaubel mit Blick auf die anstehende Wahl zum Europäischen Parlament fest, entwickele und pflege ihre Macht unbehelligt von den Abgeordneten. Die EU-Parlamentarier hätten nämlich ein ureigenes Interesse, die Politik auf EU-Ebene zu zentralisieren, denn jede Übertragung von Kompetenzen an die Europäische Union vergrößere auch ihre Macht.
Vaubel und - in einem eigenen Beitrag der emeritierte Professor für Nationalökonomie an der Universität Basel - Peter Bernholz schlagen daher vor, das Europäische Parlament solle sich künftig die gesetzgebende Gewalt mit einer zweiten Kammer teilen, die sich aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammensetzt. Diese Abgeordneten sollen nicht aus ihren Herkunftsparlamenten ausscheiden, damit ihnen nicht der Sinn für den Wert nationaler Parlamente verlorengeht. Und sie sollen per Los ermittelt werden, um zu verhindern, dass sich in der Zweiten Kammer des Europäischen Parlaments lauter Abgeordnete einfinden, die sozusagen über eine mental eingebaute Präferenz für "Europa" verfügen und die sich daher einer zunehmenden Zentralisierung der legislativen Macht im Europa-Parlament nicht widersetzen.
Das Modell "Per Los nach Europa" ist nicht das Modell des jetzt zu wählenden und wohl auch noch nicht des eine Legislaturperiode später zu wählenden Europäischen Parlaments. Aber es zeigt doch, wie bisweilen die großen Fragen der Ordnungspolitik mit den kleinen Tricks des Arrangements zusammenhängen können.
Der Autor ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.06.2009, Nr. 126, S. 11
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