Freitag, 10. Juli 2009

Calvin in Deutschland







Innenraum der Evangelisch-reformierten Kirche in Leipzig - Ausstellungsexponat anläßlich des 500-jähigen Jubiläums von Calvin


Calvin in Deutschland

"Selbst im Jubiläumsjahr Calvins - am 10. Juli 2009 wird sein 500. Geburtstag gefeiert - werden die gerade einmal zwei Millionen Angehörigen reformierten Bekenntnisses in Deutschland, die, vielfältig strukturiert, in 600 Gemeinden ihren Glauben leben, Mühe haben, aus dem lutherischen Schatten zu treten. Eine historische Spurensuche.

Negative Klischees prägen bis heute das deutsche Calvin-Bild. "Das Bild des hageren bejahrten Mannes mit dem abgezehrten durchgearbeiteten Gesicht beherrscht unsere Phantasie", hieß es bei einer Festrede zum 400. Geburtstag Calvins im Jahre 1909. In einem Konversationslexikon für Damen aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird Calvin lakonisch als "strengrechtlich, mildtätig, fromm; aber gegen Andersdenkende oft hart, ja sogar grausam" charakterisiert. Als strenger Despot aus Genf sei er bereit gewesen, über Leichen zu gehen.

Gerade im Zeitalter der Diktaturen stieg Calvin zur Chiffre eines unerbittlichen Gewaltpolitikers auf. 1936 verdarb Stefan Zweig mit seiner Abhandlung "Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt" das Bild des Reformators vollends. Seine historisch eingekleidete Anklage gegen die Versklavung des freien Geistes im Staate Hitlers machte aus Calvin einen Tyrannen und fanatischen Rechthaber. Zu einem "protestantischen Ajatollah" mutiert Calvin in einem Bestseller über den heutigen Bildungskanon.

Schon im neunzehnten Jahrhundert hatte sich zwischen der Wirkungsgeschichte Calvins und der deutschen Identitätsbildung ein Widerstreit ausgeformt. Die sich an Calvin kristallisierenden Werte wie Internationalität, Intellektualität, Demokratie, Republik, Individualismus standen quer zu den deutschen Tugendmaßstäben. Kein Geringerer als Goethe hatte Calvin von Gefühl und Romantik abgetrennt: "Luther hat die Schwärmerei zur Empfindung gemacht, Calvin machte die Empfindung zu Verstand." Noch Adorno und Horkheimer nannten in ihrer "Dialektik der Aufklärung" die westliche Aufklärung und den Calvinismus in einem Atemzug und brachten damit eine ideenpolitische Entwicklung auf den Begriff, die vom Sonderweg Deutschlands in der europäischen Geschichte sowie von der Kluft der Ideen von 1789 gegenüber den "Ideen von 1914" geprägt war.

Ganz anders Luther, der bis heute die deutsche Reformationserinnerung beherrscht: Gerade im nationalen Zeitalter wurde aus der Reformation eine deutsche Erfindung gemacht. Luther als mythisch verklärter Nationalheld - vom Thesenanschlag bis zum mutigen "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" auf dem Wormser Reichstag - stand Calvin gegenüber, der den Status eines trockenen Theologen nie loswurde. Jeder Personenkult war ihm zuwider: Anonym auf dem Friedhof Plainpalais beerdigt, war es noch nicht einmal möglich, sein Grab als Ort individueller Memoria dingfest zu machen. Auch dass von Calvin keine anekdotische Aura ausging wie von Luther - keine Tischrede gab es, die Einblicke in den alltäglichen Calvin hätte eröffnen können -, stand einem positiven Bild im Wege.

Aber auch jenseits lutherzentrierter Kreise hatte sich die Figur des Genfer Reformators immer Alternativen zu erwehren. Innerhalb der in Deutschland etablierten reformierten Kirche gab es nicht nur einen von hugenottischen Einwanderern gelebten frankophil-reformierten Glauben - noch bis weit ins neunzehnte Jahrhundert wurde auf Französisch gepredigt -, daneben ist immer auch eine deutschsprachige reformierte Tradition in Rechnung zu stellen, die ihre Wurzeln auf Melanchthon und Zwingli zurückführt.

Dort, wo der Calvinismus Oktroi und kein konfessionelles Selbstverständnis einer siegreichen politischen Opposition gewesen war, konnte sich kein Calvin-Mythos entwickeln. Während in Westeuropa die dem Calvinismus eigene Idee vom Widerstandsrecht des Volkes gegen die Obrigkeit das Bewusstsein prägte, fiel der deutsche reformierte Gedanke durch eine Fixierung auf den Staat auf. Als Folge des Grundsatzes "cuius regio, eius religio" pflegten hier die Reformierten ein Nahverhältnis zur Autorität. Hinzu kommt, dass sich die Herrschaften, ob in Brandenburg, in der Kurpfalz, in Dillenburg, Bremen, Anhalt oder in den Grafschaften Lippe und Bentheim, zuvor schon zum Luthertum bekannt hatten. Die reformierte Konfessionalisierung stellt also eine "zweite Reformation" (Heinz Schilling) dar. Im Gehäuse luthergeschützter Provenienz grenzten sich die reformierten Territorien von westeuropäischen Maximen ab. Die strenge Prädestinationslehre konnte nur in verwässerter Form über den Rhein gelangen. Allenfalls in Nordwestdeutschland, in Gebieten, die den Niederlanden benachbart sind wie Emden, konnte eine presbyterial organisierte reformierte Orthodoxie Fuß fassen.

Fontane und die Hugenotten

Das deutsche neunzehnte Jahrhundert war ein Zeitalter des ausufernden Lutherkults, scharfer konfessioneller Konkurrenz, einer allgegenwärtigen Nationalisierung und einer Pflege von Obrigkeitsstrukturen gewesen, die in einer Überhöhung des Staates ihren Ausdruck fand. Dies verlieh der deutschen Erinnerung besondere Akzente, die in den meisten Fällen auf eine Marginalisierung Calvins hinausliefen.

Im Deutschen Kaiserreich, als Mythos und Personenkult eine Symbiose eingingen, sollte selbst Calvin ikonische Gedenkspuren hinterlassen, ganz im Kontrast zur textgesteuerten Theologie des Reformators, von dem das Diktum "La foi est une vision des choses qui ne se voient pas" überliefert ist. Während in jeder bedeutenden Stadt mit evangelischer Tradition Denkmäler Luthers entstanden, die ihn als Helden volkstümlich machten, kam Calvin zunächst nicht über das Format eines Medaillons hinaus. Weder bei der Schlosskirche in Wittenberg noch beim Luther-Denkmal in Worms war es möglich, Calvin ganzfigurig, geschweige denn überlebensgroß in Stein zu hauen. Der Entwurf von Ernst Rietschel für die 1868 eingeweihte steinerne Inszenierung in Worms zielte darauf ab, die gesamte Reformationsgeschichte zu umfassen, mit der bezeichnenden Verkürzung, dass von Calvin kaum etwas blieb. Ihm, der erst nach Luther zur Wirkung kam, blieb nur die Rolle eines lutherabhängigen Epigonen.

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts sollte sich die Calvin-Memoria in Denkmälern beherzter gestalten. Im Neubau des Berliner Doms, der Hofkirche der Hohenzollern, die wie eine protestantische Peterskirche erscheint, erhielt Calvin in der Übergangszone zur großen Kuppel als einer von acht historischen Persönlichkeiten eine ganzfigurige Skulptur. Im höfisch approbierten Rahmen des deutschen Kaisertums harmonierten die Protagonisten der Reformation. In der Provinz hingegen barg die gemeinsame Darstellung von Luther und Calvin weiterhin lokalen Konfliktstoff, wie Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" zu berichten weiß. In der Kirche der märkischen Stadt Gröben löste eine Kanzel mit den Statuetten von Luther, Melanchthon und Calvin Irritationen aus. Der örtliche Geistliche protestierte gegenüber seiner Patronin gegen die Zulassung Calvins.

Die von Fontane, der seine hugenottische Herkunft nie verleugnete, kolportierte Geschichte verweist auf eine weitere deutsche Besonderheit: Die Erinnerung an Calvin wurde nicht nur durch Luther, sondern ebenso durch den Hugenotten-Mythos überblendet. Dachte man in Preußen an Calvin, war stets die Erinnerung an die Aufnahme der Hugenotten mitgemeint. Traditionsgemäß stand die Memoria dieser Migrantengruppe in den darauffolgenden Jahrhunderten aber nicht im Anziehungsbereich der Calvin-Figur als vielmehr unter den Vorzeichen von Flucht und Vertreibung, einer Integration der Einwanderer in die deutsche Gemeinschaft, wobei nicht zuletzt die eigenen Aufbauleistungen hervorgehoben wurden, sowie Rückblicken des Herrscherhauses, das sich im Lebenswerk der herbeigerufenen Fremden spiegelte.

Tatsächlich kam Calvin lange Zeit nicht vor, als die französisch-reformierte Gemeinde in Berlin stets am Sonntag nach dem 29. Oktober den Jahrestag des Ediktes von Potsdam (1685), ihr "Fête du Refuge", beging; zum ersten Mal 1814 im Hochgefühl des Triumphes über Napoleon, als es galt, Abstand zu Frankreich zu zeigen. Wenn auch zur Zweihundertjahrfeier des Potsdamer Edikts eine Calvin-Büste aus Marmor nach einem durch die Brüder Castan geschaffenen Genfer Vorbild aufgestellt werden konnte, war sie doch im Garten des Französischen Hospitals in der Friedrichstraße für den städtischen Alltag kaum sichtbar. Viel auffälliger im Stadtraum standen hingegen die Hohenzollern-Denkmäler, die durch Kränze mit der Inschrift "Die dankbare französische Kolonie" geschmückt waren, allen voran das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten beim Schloss.

Erst von außen, durch das zwischen 1909 und 1917 im Stile eines Memorials geschaffene Reformationsdenkmal von Genf, wurde die Ikonographie der Hugenotten mit einem Rückgriff auf Calvin verquickt. Calvin als eines der mittigen Standbilder war von erzählenden Reliefs flankiert, von denen eines die Ankunft der Hugenotten in Brandenburg darstellte. Aus Anlass der Grundsteinlegung dieses Denkmals sprachen Adolf von Harnack und Erich Marcks, Berliner Professoren der Kirchengeschichte und Geschichtswissenschaft, in einem Grußwort von den Hugenotten als "den geistigen Söhnen Calvins". Die Verbindung von Herrscherlob und Dank der Neuankömmlinge war als preußischer Gründungsmythos im Kaiserreich propagiert worden.

Das Jubiläum von 1909 kam wie gerufen, auch Calvin einen Platz in der konfessionellen Heldengalerie einzuräumen. Calvin sollte Konkurrenten der Hugenotten-Memoria, etwa den Märtyrer der Bartholomäusnacht, Gaspard de Coligny, überflügeln, von dem, für ein geplantes Coligny-Denkmal, sogar Handzeichnungen Wilhelms II. überliefert sind.

Einen spezifischen Akzent setzte man auf ideenpolitischem Gebiet. Um 1900, im Zeitalter des Imperialismus und der Kolonisierung, als sich die Weltwirkung Calvins aufdrängte, konnte sich im gebildeten Bürgertum ein Diskurs über Gemeinsamkeiten und Unterschiede protestantischer Glaubensrichtungen sowie deren Kulturbedeutung herausbilden. Sie waren es, die den national verengten Horizont der lutherischen Pfarrerschaft und der Gläubigen in den einzelnen Gemeinden sprengten: Nun entstand das Bewusstsein dafür, dass eine über Deutschland hinausgehende Reformationserinnerung auf Calvin ausgerichtet werden müsse.

Man könne längst nicht von einem Luthertum wie von einem Calvinismus sprechen, so der Kirchenhistoriker Hans von Schubert in seiner Heidelberger Festrede von 1909. Calvin habe "das Evangelium aus der nationalen Gebundenheit, in der es sowohl bei Zwingli als auch bei Luther auftrat, befreit und zu einer universalistischen Religion ausgestaltet, die den romanischen wie den germanischen, den ungarischen wie den slawischen Völkern gleich annehmbar war".

Durch Max Webers These, mit der er die Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa und Amerika erklären wollte, avancierte der Begriff des Calvinismus zu einer zentralen ideengeschichtlichen und kulturpolitischen Kategorie. Weber machte aus einer kaum vorhandenen Erinnerung an Calvin sogleich die Erinnerung an seine Jahrhunderte übergreifende Wirkungsgeschichte, den Calvinismus. Kein Zufall, dass die Suche nach religiösen Wurzeln einer Gesinnung, die eine ökonomische Modernisierung entfesselt haben soll, gerade in Deutschland Fuß fasste. Denn hier waren zahlreiche politische Debatten religiös und weltanschaulich fundiert, hier war es auf der Suche nach dem Wesen üblich, politische Gegenwart aus der Tiefe von Religion und Geschichte zu verstehen.

Seit Webers "Protestantischer Ethik" von 1905, der Ernst Troeltschs Vortrag zur "Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" (1906) zur Seite gestellt werden muss, stritt man auf der Suche nach dem Ursprung des modernen Geistes und der Entstehung der liberalen Demokratie über die Vorzüge von Luthertum und Calvinismus. Georg Jellinek hatte den Puritanismus zur Quelle moderner Menschen- und Bürgerrechte erklärt. In Kontrast zum deutschen Luthertum, das ein gefügiges Werkzeug in den Händen der Kleinfürsten gewesen sei, hatte schon Jahre zuvor der aus einer reformierten Wuppertaler Unternehmerfamilie stammende Friedrich Engels den demokratischen und republikanischen Charakter von Calvins Kirchenverfassung herausgestellt: "Aber neben dem Deutschen Luther hatte der Franzose Calvin gestanden; mit echt französischer Schärfe stellte er den bürgerlichen Charakter der Reformation in den Vordergrund, republikanisierte und demokratisierte die Kirche. Während die lutherische Reformation in Deutschland versumpfte und Deutschland zugrunde richtete, diente die calvinische den Republikanern in Genf, in Holland, in Schottland als Fahne, machte Holland von Spanien und vom Deutschen Reiche frei und lieferte das ideologische Kostüm zum zweiten Akt der bürgerlichen Revolution, der in England vor sich ging." Im Luthertum sahen Engels, Weber und Troeltsch stattdessen eine "preußische Herrenreligion", deren ständische Gemeinwohlideale nur Untertanengeist beförderten. Hier würde die gesamte politisch-soziale Tätigkeit dem Staate überlassen, für sich selbst bliebe nur die Innerlichkeit des Glaubens. Dieser passiv-resignativen Variante stand als attraktiver gesellschaftsausgreifender Glaubensentwurf die aktivistische Lebensbewältigung des Calvinismus gegenüber.

Karl Barths dialektische Theologie

Im lutherisch gesinnten Bürgertum wurde man sich bewusst, dass es Calvin gewesen war, der dem Protestantismus weltweit zum Durchbruch verholfen hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg stand die von 1517 bis 1871, von Luther bis Bismarck selbstgewiss propagierte, protestantisch-nationale Erfolgsgeschichte zur kritischen Prüfung, die nun in der Not der Niederlage nach einer erweiterten, globalen Perspektive bedürftig war. In dieser Zeit der Neuorientierung stellte der berühmte Luther-Forscher Karl Holl Luther und Calvin gegenüber, wobei Calvin als Sieger hervorging: "Indes wo Luthers Schwäche lag, war die Stärke Calvins."

Der vor allem durch Weber und Troeltsch angestoßenen kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Komplexes Calvin und Calvinismus stand wenig später eine durch Karl Barth forcierte theologische Engführung gegenüber. Charakteristisch für die Calvin-Erinnerung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war noch das pointierte Interesse an der Bedeutung der calvinistischen Reformation für die Geschichte der politischen Kultur gewesen, was bis heute an der Ikonographie des Reformationsdenkmals in Genf zu erkennen ist. Obwohl der Calvinismus innerhalb der Theologie auch eine kulturwissenschaftliche Annäherung nahegelegt hätte, bedeutete die für den deutschsprachigen Raum im Zentrum stehende Calvin-Rezeption Karl Barths in Form der dialektischen Theologie zugleich eine Abkehr von den Maximen der liberalen Theologie, wie sie von Adolf von Harnack und Friedrich Schleiermacher vertreten wurden.

Calvin stieg in der Weimarer Zeit zum Inbegriff des Lehrers einer jungen, dialektisch geschulten Theologengeneration auf, was angesichts der damals schon begrenzten Wirkung der Theologie in der säkularen Gesellschaft mit dessen Marginalisierung im öffentlichen Kulturbewusstsein einhergehen musste. Als Karl Barth im Jahre 1936 während der Vierhundertjahrfeier der Genfer Reformation bei einer akademischen Festsitzung in der Genfer Madeleinekirche sprach, sah er sich nicht mehr veranlasst, über die von Weber und Troeltsch angestoßene Kulturbedeutung des Calvinismus zu räsonieren, nicht zuletzt deswegen, weil im NS-Regime dieser Ansatz geradezu pervertiert wurde. Aus dem chauvinistischen Zeitgeist geborene Titel wie "Calvins deutsche Sendung" oder "Calvin und wir Deutschen" machten die Runde. Derartigen Vereinnahmungsversuchen stand auf der anderen Seite die rigorose Betonung seiner Fremdheit, seiner Inkompatibilität mit deutschen Wesen gegenüber, wie besonders schlicht von Heinrich Forsthoff, dem deutschnationalen Vertreter der rheinischen Kirche, propagiert.

Calvins in Deutschland freigesetzte Erinnerungen gleichen einem Palimpsest. Mehr noch als bei anderen Erinnerungsfiguren entziehen sie sich in ihrer Ursprünglichkeit immer wieder dem Zugriff. Wenn Calvins in Deutschland gedacht wurde, waren stets mehrere, sich überlappende Zeitschichten präsent, die oft gar nicht oder nur am Rande mit ihm selbst verknüpft waren."

STEFAN LAUBE

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.07.2009, Nr. 155, S. N4

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