Montag, 30. März 2009

Ist der Kapitalismus noch zeitgemäß?



Vor dem Krisengipfel in London

Ist der Kapitalismus noch zeitgemäß?

Von Rainer Hank

30. März 2009 Versuchen Sie einmal, einen Porsche für einen Euro zu kaufen. Es wird Ihnen nicht gelingen. Der Porsche-Händler wird Sie zum Teufel schicken. Macht aber ein Eisverkäufer den Versuch, Ihnen ein Schokoladeneis für 60.000 Euro anzudrehen, wird ihm dies ebenso wenig gelingen. Denn Sie werden den Mann zum Teufel jagen. „Jeder Tauschakt auf dem Markt beruht auf einer doppelten Freiwilligkeit“, sagt der Tübinger Philosoph Chris Paret: „Nur wenn es in beider Interesse liegt, kommt der Tausch zustande.“

Der Markt, so könnte man sagen, gewährt möglichst vielen Menschen möglichst viel Freiheit. Es ist die Freiheit zu tauschen zu einem von beiden Parteien akzeptierten Preis. Mitmachen kann freilich nur, wer Geld hat. „Nur geldbewährte Bedürfnisse zählen“, sagt Paret: „Die anderen fallen unter den Tisch.“ Nicht der Hungernde und auch nicht der mit dem guten Geschmack, sondern der Zahlende wird befriedigt. Welchen Preis aber ein Gut hat, hängt von dem Wert ab, den die Menschen diesem Gut beimessen. Ein Porsche gilt eben als wertvoller und prestigeträchtiger als ein Schokoladeneis.

Für die „Grenzen des Wachstums“ sind die Deutschen empfänglich

Seit die globale Finanzkrise die Menschen in Schock versetzt hat, ist die Marktwirtschaft ziemlich in Verruf geraten. Kein Wunder, dass viele hoffnungsfrohe Apokalyptiker jetzt das Ende des Kapitalismus nahen sehen. Werden wir heute zu Zeugen des kapitalistischen Zusammenbruchs, so wie wir vor zwanzig Jahren das Ende des sozialistischen Systems erlebt haben? Selbst ehemalige Freunde der Marktwirtschaft wie Bundespräsident Horst Köhler singen nun laut im Chor der Skeptiker mit. „Wir können uns nicht mehr hauptsächlich auf wirtschaftliches Wachstum verlassen“, gab Köhler vergangene Woche in seiner „Berliner Rede“ von sich. Für die „Grenzen des Wachstums“ sind die Deutschen allemal empfänglich.

Wo der Bundespräsident zum Zweifler wird, überrascht es nicht, dass andere noch viel radikaler urteilen. Michail Gorbatschow, der letzte Staatschef der kommunistischen Sowjetunion, ist sich sicher, dass das „in den frühen achtziger Jahren verankerte Wirtschaftsmodell“ sich jetzt auflösen werde: „Es basierte auf der Maximierung von Profiten“, weiß Gorbatschow in gut marxistischer Tradition: „Jahrzehntelang wurde uns gesagt, dies komme uns allen zugute. Doch wie die Statistiken belegen, war dies nicht der Fall.“

Es ist immer dasselbe: „Der Kapitalismus ficht seinen Prozess vor Richtern aus, die das Todesurteil bereits in der Tasche haben“ (Joseph Schumpeter). Doch die Totengräber des Kapitalismus irren. Man braucht die gegenwärtige Krise nicht zu beschönigen, um zugleich anzuerkennen, dass es die ungestüme Wachstumsdynamik des neuen Kapitalismus war, die viele Menschen aus der Armut befreit hat und das Leben für alle Menschen lebenswerter werden ließ. Der Preis, den wir nach der Exekution des kapitalistischen Todesurteils zu zahlen hätten, wäre hoch, würde er doch nichts anderes bedeuten als die Verarmung vieler Millionen Menschen.


Kapitalismus ist mehr als „nur“ ein materieller Erfolg

Ist es ein Zufall, dass zwischen 1980 und 2005, jener Zeit, in der die Welt die Idee freier Märkte wieder entdeckte, der Lebensstandard in vielen Ländern rund um den Globus sich rapide verbesserte? Es sind jene Jahre, die Köhler und Gorbatschow jetzt als Jahre der Profitexzesse und des ungesunden Wachstums denunzieren. Die Daten aber beweisen eindeutig: Genau in diesen Jahren hat sich das Prokopfeinkommen der Weltbevölkerung inflationsbereinigt von 5400 auf 8500 Dollar gebessert. Das ist mehr als „nur“ ein materieller Erfolg: Bildungschancen der Kinder und Lebenserwartung der Alten haben sich enorm gemacht; die Kindersterblichkeit ging zurück, und es gibt viel weniger Arme auf der Welt (siehe Grafiken). Verglichen mit dem Jahr 1980, werden heute wesentlich mehr Staaten der Welt demokratisch regiert. Die Ungleichheit in den Lebensstandards und Einkommensniveaus zwischen den Ländern nahm ab, wiewohl sie innerhalb einer Reihe ehemals armer Länder fortschrittsbedingt zunahm.

Noch einmal gefragt: Ist es Zufall, dass es jenes gerade vergangene Vierteljahrhundert ist, das viele heute gerne als Zeitalter unverantwortlicher Marktexzesse diskreditieren, das der Menschheit so viel Wachstum und Wohlstand gebracht hat? Der Harvard-Ökonom Andreij Shleifer nennt jene Jahre provokativ „das Zeitalter Milton Friedmans“ nach dem berühmten Chicago-Ökonomen und Nobelpreisträger Friedman (1912 bis 2006), der offene Märkte, eine stabile makroökonomische Wirtschafts- und Finanzpolitik und rechtsstaatliche Verlässlichkeit als Grundvoraussetzung für menschlichen Wohlstand propagierte.


Friedman hatte das Glück, dass seine Ideen nicht im akademischen Elfenbeinturm blieben, sondern von Politikern wie Ronald Reagan in Amerika und Margaret Thatcher in Großbritannien in reale Politik umgemünzt wurden: Privateigentum, Freihandel, disziplinierte Staatsbudgets und zumutbar niedrige Steuern bilden den Kern seiner Lehre. Heute daran zu erinnern, wo die Staaten – zu Hilfe gerufen von Kapitalisten, die in ihrer Hilflosigkeit einen mehr als jämmerlichen Eindruck machen – mit schuldenbasierten Rettungspaketen sich nur so überbieten, ist mehr als ein Verstoß gegen den guten Geschmack. „So etwas tut man nicht“, würde Horst Köhler sagen.

Der Kapitalismus hat die Menschen befreit

Aber womöglich würde der Bundespräsident das Argument akzeptieren, dass der mit Abstand größte Skandal der Menschheit darin besteht, dass Millionen von Menschen in Afrika bis heute hungern und in bitterster Armut leben, ja dass es dort vielen heute viel schlechter geht als zum Zeitpunkt ihrer Befreiung von den Kolonialregimes. Afrika aber, das soll nicht zynisch klingen, ist mit Sicherheit jener Kontinent, wo weder die Ideen Milton Friedmans noch gierige Investmentbanker ihre „Exzesse“ veranstaltet haben.


Es war der Kapitalismus, der die Menschen aus der Sklavenhalterwelt Oliver Twists befreit hat. Seit der Entstehung des Finanzkapitalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich die Produktivität in all jenen Ländern Europas gebessert. Der Finanzkapitalismus hat es den Menschen ermöglicht, sich aus langweiliger, ermüdender oder beschwerlicher Arbeit zu befreien und sich fortan geistig anspruchsvollen Tätigkeiten zuzuwenden.

Begründet wurde das Wunder der Industrialisierung durch die wachstumswirksame Revolution der menschlichen Denkungsart seit der europäischen Renaissance. Entscheidend waren die Ideen: Knowledge matters. „Ideen, seien sie richtig oder falsch, sind mächtiger als üblicherweise angenommen“, sagte John Maynard Keynes und bestritt damit zugleich dem auch unter nichtmarxistischen Ökonomen verbreiteten Materialismus sein Recht. Dafür, dass Ideen gedacht werden und fruchtbar werden, braucht es Wettbewerb. Mehr noch: Der Wettbewerb wurde überhaupt erst zum Geburtshelfer dieser Ideen. Denn er setzt Anreize zur Kreativität.

Eigentum muss respektiert werden

Was sind die Bedingungen für eine gute Marktwirtschaft? Allemal braucht es technische und institutionelle Voraussetzungen, die (Wissens-)Angebot und -Nachfrage zusammenbringen. Grundbedingungen dafür ist, dass (geistiges) Eigentum respektiert wird: Autorenschaft muss anerkannt werden, und Patente müssen vor Imitation geschützt werden. Ohne Individualismus kein Markt. Unabdingbar ist zudem ein Rechtssystem, welches Eigentum garantiert, Vertragsfreiheit sichert und Regelverstöße ahndet oder zumindest Ahndung androht. Mehr noch: Bildung muss eine angemessene Einkommens- oder Prestigerendite versprechen; Abweichlertum muss eine Chance wittern, als Avantgarde einen guten (zunächst womöglich immateriellen) Preis zu erzielen und irgendwann auch Mainstream werden zu können. Nur dann lohnt es sich, Denker oder Künstler zu werden und in die eigene Intellektualität zu investieren.

Im „Durchsetzen neuer Kombinationen“ lag für Joseph Schumpeter der Kern der Kreativität des Kapitalismus. Was freilich häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass dieser Prozess der kreativen Wohlstandsmehrung nicht linear verläuft, sondern zyklisch, im Wechsel von Auf- und Abschwung, von Boom und Krise. Boomzeiten aber, ob künstlich oder real, verzerren Anreize und Werte. Sie machen uns blind für die Risiken. Nichts anderes meint die häufig hingeworfene Floskel, die Wirtschaft bestehe mindestens zur Hälfte aus Psychologie. „Die menschliche Natur beeinflusst die Art und Weise, wie wir uns auf Märkten verhalten - viel mehr, als dass Märkte unsere menschliche Natur beeinflussen“, sagt der indische Ökonom Jagdish Bhagwati. Von „animal spirits“, animalischen Trieben, spricht Keynes. Sie führen dazu, dass die scheinbar so rationalen Märkte zwischen Gier und Angst schwanken.

Keynes war der Meinung, dass die meisten wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen rationalen Motiven entspringen. Die Menschen verfolgen ihre Ziele, sie suchen ihren Nutzen, sie wägen Kosten und die möglichen Alternativen ab. Aber sie sind auch, weil sie Menschen aus Fleisch und Blut sind, ihren Trieben und Stimmungen unterworfen. Einmal neigen sie zu Vertrauen, ein anderes Mal dominiert das Misstrauen. Mal werden sie neidisch, mal meldet sich das alte Ressentiment. Und nie gibt es ein objektives Maß, welches anzeigen würde, wann eine Unternehmung zu riskant und wann eine Gewinnerwartung übertrieben ist.

Erst der Kredit verschafft den Habenichtsen eine Chance

Dreh- und Angelpunkt des Kapitalismus ist das Finanzsystem. Denn Ideen ohne Geld bleiben steril; aus ihnen kann nichts werden. Erst der Kredit verschafft auch den Habenichtsen die Chance, mit keinem - oder wenig - Eigenkapital ihre Ideen zu Markte zu tragen. Der Kredit, so würde man heute sagen, stellt dem Eigenkapital einen Hebel bereit, mit dem sich die Rendite beträchtlich steigern lässt. Das funktioniert freilich nur, wenn der Schuldner seinen Kredit auch bedienen kann: Fremdkapital diszipliniert. Denn es erzwingt effizientes und kreatives Wirtschaften. Dem Schuldner sitzt ständig sein Gläubiger im Nacken, der für die Überantwortung des Geldes einen Preis - den Zins - verlangt. Kein Wunder, dass der Soziologe Max Weber den Zins als „die höchste Form menschlicher Rationalität“ bezeichnet hat.

Das moderne Finanzsystem bestand lange Zeit aus einem ausgewogenen Netz von Institutionen, welches von Aufsichtsbehörden, einer politisch unabhängigen Zentralbank und den Regierungen kontrolliert wurde. In der Krise hat sich jetzt aber gezeigt, dass nicht nur Märkte, sondern auch die politisch gesetzten und staatlich legitimierten Kontrollinstanzen den Animal Spirits unterworfen sind. Alle gemeinsam haben vergessen, dass der Zyklus seine Gezeiten kennt, alle haben, statt gesundes Misstrauen zu hegen, einander blind vertraut, davon geträumt, der Konjunkturzyklus habe sich überlebt und gierig sich bereichert - so lange, bis die Weltfinanzkrise die Menschheit an die unerbittliche Gesetzmäßigkeit des Zyklus erinnerte. Aus der „kreativen Zerstörung“ wurde eine „zerstörerische Kreativität“, meint Jagdish Bhagwati.

Wird das Leid, das jetzt viele erdulden, sich irgendwann bezahlt machen? Könnten wir die Früchte der Globalisierung und des Wachstums nicht auch ernten, ohne solch schwere Krisen der Finanzmärkte in Kauf nehmen zu müssen?


Regelmäßig Finanzkrisen - aber auch hohes Pro-Kopf-Einkommen

Eines ist klar: Alle paar Jahre wird und will sich der Kapitalismus ein solches Desaster wie derzeit besser nicht leisten. Aber einen kleinen Trost hält eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) bereit, welche die Probe aufs Exempel gemacht und 56 Länder verglichen hat. Das provokante Ergebnis: Menschen in Staaten, die ihre Finanzmärkte liberalisiert haben und im Zuge dessen auch genötigt und bereit waren, regelmäßig Finanzkrisen zu erdulden, haben ein langfristig höheres Pro-Kopf-Einkommen erzielt als Länder, die ihre Finanzmärkte geschützt haben.

Schlagendes Argument ist ein Vergleich zwischen Thailand und Indien in den Jahren 1980 bis 2002. Während Indien einen Pfad langsamen, aber stetigen Wachstums verfolgte und seinen Kapitalmarkt nur zögerlich geöffnet hat, durchlebte Thailand eine aufregende und ungestüme Zeit mit rapidem Wachstum, enormem Anschwellen der Kreditvolumina, aber auch starken Einbrüchen, herben Verlusten und zumindest einer schweren Finanzkrise. Im Saldo verbesserte sich das Pro-Kopf-Wachstum in Thailand im genannten Zeitraum um 163 Prozent, während es in Indien nur um 116 Prozent zunahm. Dazu muss man wissen, dass gerade Thailand durch die Asien-Krise im Jahr 1997 besonders hart getroffen wurde, sich aber auch - wie die meisten anderen davon affektierten Länder - auch außerordentlich rasch wieder erholen und die Verluste kompensieren konnte.

„Wir sagen nicht, dass Krisen eine gute Angelegenheit sind“, schreiben die MIT-Autoren vorsichtshalber. Aber sie führen den Nachweis, dass liberalisierte Finanzmärkte, erhöhte Krisenanfälligkeit und hohes Wachstum korrelieren. Damit wäre nahegelegt: Vom explosionsartigen Wachstum der Finanzindustrie profitiert nicht nur diese Kreditbranche selbst. Es gibt auch einen überschießenden Effekt auf die Realwirtschaft (wenngleich gewiss nicht im selben Maße). Der wirtschaftliche Boom der letzten zwei Jahrzehnte hätte somit dazu beigetragen, die Globalisierung zu finanzieren und das rasche Wachstum vor allem jener Länder Asiens zu ermöglichen, die ihre Kapitalmärkte liberalisiert haben.


Ob wir dieses Mal so glimpflich davonkommen, kann niemand wissen

Freilich ist die Krise, die wir derzeit erleben, mit Sicherheit gravierender als die lokal begrenzten Krisen Mexikos oder Asiens. Ob wir dieses Mal so glimpflich davonkommen, kann heute noch niemand wissen. Ohnehin ist nicht gottgegeben, dass die Menschheit dazu verdammt wäre, zyklische Krisen in großer Regelmäßigkeit zu erleiden. Es ist ihr unbenommen, sich dem zu entziehen, die Kapitalmärkte stärker zu regulieren, den freien Kapitalverkehr einzuschränken und die Wirkung von Krisen zu moderieren, um den Preis moderateren Wachstums. Über diese Fragen wird beim Weltwirtschaftsgipfel in London in der kommenden Woche gerungen werden.

Eines freilich ist klar: „Der Kapitalismus verfügt über die beinahe grenzenlose Fähigkeit, sich selbst neu zu erfinden“, sagt Dani Rodrik, ein linker Harvard-Ökonom, der die Folgen der Globalisierung sehr skeptisch ansieht. Rodrik bekennt aus vollem Herzen: „Es gibt nichts Gleichwertiges zum Kapitalismus, wenn es darum geht, die kollektive ökonomische Energie menschlicher Gesellschaften freizusetzen.“

Die große Frage ist deshalb jetzt, welche Lehren der Kapitalismus aus der ersten globalen Krise des 21. Jahrhunderts ziehen wird. Denn immer schon gab es den Kapitalismus nur im Plural - als eine Vielfalt unterschiedlicher Ausformung eines Wirtschaftsprinzips. Neben der angelsächsischen Spielart weitgehend offener Märkte existiert bis heute der sogenannte rheinische Kapitalismus deutscher Provenienz, bei dem die Eigentümer die Verfügungsgewalt über ihr Eigentum mit anderen Stakeholdern (Arbeitnehmern, Gewerkschaften) zu teilen bereit sind. Wird das deutsche Modell ein Comeback erleben, nachdem der Wall-Street-Kapitalismus in der Devensive ist? Wir wissen es nicht.


Zunehmend selbstbewusst schält sich auch ein ganz neues Modell des asiatischen autoritär-paternalistischen Kapitalismus heraus, wo zentrale Planwirtschaft von oben und experimentelle Marktwirtschaft von unten nicht als Gegensätze erachtet werden. Dieser asiatische Kapitalismus hält sich nach der Erfahrung der Krisenanfälligkeit des westlich-amerikanischen Modells jetzt erst recht dazu ermächtigt, seinen eigenen Wahrheits- und Erfolgsanspruch zu behaupten. Wie stilbildend wird das asiatische Modell künftig werden?

Zyklen kapitalistischer Stile seien so alt wie die Konjunkturzyklen, sagt Lord Robert Skidelsky, der Keynes-Biograph und große alte Mann der britischen Ökonomie: Normalerweise werden sie von schwerwiegenden wirtschaftlichen Turbulenzen ausgelöst. Gut möglich, dass wir jetzt vor einem gewaltigen Stilwechsel stehen.


Zum Thema


Text: F.A.Z.

Sonntag, 22. März 2009

Einkommensverteilung in Deutschland

Bereits Goethe wies im Faust darauf hin dass: „Zum Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles.“

"Nach Golde drängt,

Am Golde hängt

Doch alles. Ach wir Armen!“

Faust I, 2802-2804

Prof. Dr. Stefan Hradil:

Armut, Reichtum und die Mittelschicht. Die Einkommensverteilung in Deutschland wird ungleicher.
Tele-Akademie - Ein Studium generale im SWR Fernsehen
Sendezeit: So. 22.03.2009, 8.30h

Ein Interessanter, informativer Vortrag mit vielen bildhaft dargestellten Daten aus den letzten Jahren.


„Nach jahrzehntelangem Wachsen schrumpft seit einigen Jahren die Mittelschicht in Deutschland. Es gibt immer mehr Bezieher von Niedrigeinkommen einerseits und von hohen Einkommen andererseits. Selbst die qualifizierten Dienstleistungsmittelschichten wachsen nicht mehr. In der gesellschaftlichen Mitte nehmen die Aufstiegschancen zu, es steigen aber auch die Abstiegsrisiken. Die Arbeitsbedingungen werden härter. Die Ängste wachsen. Die eigenen Einkommen gelten als immer weniger gerecht. Vor allem die Steuern und Abgaben erscheinen zu hoch. Die Situation der Mittelschicht wird also unsicherer. Was ist zu tun? Umverteilungs- und Sicherungsmaßnahmen wirken nur kurzfristig. Nachhaltig verändern lassen sich die problematischen Entwicklungen vor allem durch mehr Bildung und Weiterbildung, die insbesondere bildungsfernen Milieus mehr Chancen gibt“


In einer Gesellschaft, wo alle hungern, gibt es keine Armut. Paradox? Durchaus nicht! Dieses resultiert aus der Definition des Begriffs!


Freitag, 20. März 2009

Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts



.. nun mal was anderes in der Tagespresse. Passt gut zum Frühlingsanfang.


Ich liebe dich, mein Feid

Karl Dedecius versammelt Polens moderne Lyriker

Von Stefanie Peter

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20. März 2009

Herr, schenk mir die kraft und die geschicklichkeit jener, die

lange vielästige sätze bauen, geräumig wie eichen,

wie ein riesiges tal, auf dass darin welten platz hätten, schatten

der welten, welten aus traum.

So steht es in „Brevier“, einem der letzten Gedichte, die Zbigniew Herbert vor seinem Tod im Jahr 1998 geschrieben hat. Es scheint, als wollte sich dieser wohl bekannteste polnische Lyriker des letzten Jahrhunderts am Ende seines Lebens zudem aus seiner angestammten Literaturgattung verabschieden.


Königsgattung der polnischen Literatur


Sind aber diese Verse nicht auch eine Todesanzeige der Gedichtkunst selbst? Zwar kennt die polnische Literaturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur große Lyriker – mit Witold Gombrowicz, St. I. Witkiewicz und Stanisław Lem wären sogar einige ihrer prominentesten Protagonisten zu nennen, die gar keine Gedichte geschrieben haben. Und doch hatte die Verskunst hier einen Stellenwert wie in kaum einer anderen großen europäischen Nationalliteratur. Gleich zwei polnische Lyriker – Wisława Szymborska und Czesław Miłosz – erhielten im vergangenen Jahrhundert den Nobelpreis; die Lyrik galt lange Zeit als Königsgattung der polnischen Literatur. Nicht erst seit der Jahrtausendwende haben aber Prosa-Autoren das Zepter fest in der Hand. Man kann in diesem Zusammenhang auf den 1970 in Oppeln geborenen Lyriker Tomasz Różycki verweisen – doch gilt der als Ausnahmetalent. Die beste polnische Lyrik findet sich heute in den Songtexten kluger Rapper, in der Popmusik.

Somit trägt die Anthologie „Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts“, die der große Übersetzer und unentwegte Kulturvermittler Karl Dedecius nun in einer zweisprachigen Ausgabe bei Insel vorlegt, Züge eines Nachrufs – diese Blütenlese versucht sich an einer letzten Bewahrung und Kanonisierung einer unwiederbringlich verlorenen Art. Dass die Buchdeckel dieses Bandes keine Grabsteine sind und sich beim Blättern, Stöbern und Lesen nicht das Gefühl einstellt, man müsse den Staub von den Seiten blasen – das liegt auch an den vielen Neuentdeckungen, die diese Sammlung gerade für den deutschen Leser bereithält.


Ich liebe dich, mein FEIND


Da finden sich zum Beispiel die „Küsse“ von Maria Pawlikowska-Jasnorzewska, ein Gedicht aus den zwanziger Jahren; der Vierzeiler ist eine Meditation über die dunkle Seite der Liebe:

Jede Tugend, gottgefällig,

nichtig mir scheint.

Mich macht nur eine selig:

Ich liebe dich, mein FEIND .

Die Tochter des berühmten Historienmalers Wojciech Kossak verfocht wie viele ihrer Schriftstellerkolleginnen der Zwischenkriegszeit auch für Frauen das Recht, Leidenschaft und Gefühle ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen auszuleben. Auch der Alltag, der bisher als unpoetisch gegolten hatte, floss in ihre pointierten Miniaturen ein:

Ich seh dich zögernd stehn vor kleinen Lachen,

mit Rose, Schirm, im Pelz, gemütlich warm,

ein Pekinesenhündchen unter deinem Arm . . .

Und wie wirst du den Schritt in die Unendlichkeit machen?

Da ist Antoni Słonimski, hierzulande allenfalls als Science-Fiction-Autor („Zweimal Weltuntergang“) bekannt, dessen kurzes Gedicht „Rebellion“ von 1920 dem Wesen des polnischen Revolutionärs gilt:

Mein Herz zu rühren braucht es nur sehr wenig.

Mein Wort entlädt sich leicht wie ein Gewehr.

Im Königreich bin ich ein Revolutionär,

Und in der Republik lobpreise ich den König.

Gedichte wie Köder

Liebesgedichte schrieb auch der Dichter, Übersetzer und Orientalist Wacław Rolicz-Lieder, ein Vorläufer des polnischen Modernismus. Von 1903 stammt das seinem deutschen Freund gewidmete Liebes-Poem „An Stefan George, mit einem Bild“:

Hier ist das Bild: Wie es uns widerfahren,

Das weiße Zimmer scheint auf uns zu warten,

Dort, wo im Abendrot vor vielen Jahren,

Als uns die Spatzen zwitscherten im Garten,

Zwei Seelen sich befangen offenbarten.

Rolicz-Lieder übertrug Georges Lyrik ins Polnische, und George lernte Polnisch, nur um Lieders Gedichte ins Deutsche übersetzen zu können. Selten hat sich deutsche und polnische Literatur so eindrucksvoll befruchtet wie hier.


Dieser Band legt Gedichte wie Köder aus, die uns zu Autoren und von dort weiter zu anderen Autoren führen; die Linien verästeln sich und ergeben am Ende ein vielfältigstes Geflecht aus Querverbindungen und Übertragungen. Zugleich spiegelt die Auswahl die persönlichen Lektürevorlieben ihres hoch verdienten Herausgebers. Es gibt Erstübersetzungen darin, aber auch Gedichte, die schon übersetzt waren. Dedecius, der demnächst achtundachtzig Jahre alt wird, erhebt durchaus den Anspruch, den gesamten Kanon der polnischen Lyrik in seiner eigenen Sprache zu fassen. Vielen Dichtern, darunter Milosz, der als „globaler Berufspendler“ galt, aber auch Szymborska, die immer in Krakau wohnen blieb, Adam Zagajewski, Ryszard Krynicki und sogar dem genialen Konstruktivisten Julian Przyboś ist Karl Dedecius persönlich begegnet. Und er hat ihr Werk einer deutschen Leserschaft überhaupt erst zugänglich gemacht.


Vom Fin de Siècle bis in die Gegenwart


Mit dem gleichaltrigen Tadeusz Różewicz verbindet ihn eine Freundschaft, wie er sie auch mit den bereits verstorbenen Zbigniew Herbert und dem großen Humoristen Stanisław Jerzy Lec

(„Es ist nicht ausgeschlossen zwischen dem einen und dem anderen Gedanken – glücklich zu sein“)
gepflegt hat.

Ein ganzes Jahrhundert der Poesie wird hier durchschritten, vom Fin de Siècle bis in die jüngste Vergangenheit. Der Leser verfolgt den Wandel der polnischen Sprache und spürt darin all jene Veränderungen auf, die das Land in dieser so dramatischen wie tragischen Epoche erlebte. Das macht diese Lyrikanthologie auch zu einem außergewöhnlichen Geschichtsbuch.


„Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts“. Polnisch und Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008. 543 S., geb., 38,– €.

Buchtitel: Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts
Buchautor: Dedecius, Karl

Text: F.A.Z., Nr. 67, 20. März 2009, Seite 34

Freitag, 13. März 2009

Wer sind wir?


Wer (und wie) sind wir bestimmt nicht das, was wir sagen oder fühlen, sondern das, was wir tun... oder vernachlässigen.

freie Wiedergabe nach Jane Austen


Donnerstag, 12. März 2009

Noch zwei Beiträge zum Thema: Steinbach / Bartoszewski


Bartoszewski antwortet Lammert

WARSCHAU, 11. März (dpa). Der polnische Deutschlandbeauftragte Wladyslaw Bartoszewski hat in einem Brief an Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) seine Angriffe auf Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach bekräftigt. "Als Europäer kann ich die von Frau Steinbach öffentlich forcierte falsche Interpretation der Geschichte nicht akzeptieren", schrieb Bartoszewski in dem Brief, den die Zeitung "Gazeta Wyborcza" am Mittwoch veröffentlichte. Der 87 Jahre alte ehemalige Auschwitz-Häftling und frühere polnische Außenminister antwortete damit auf ein Schreiben Lammerts vom vergangenen Samstag. Darin hatte Lammert Bartoszewski um Mäßigung gebeten und Steinbach vor Kritik in Schutz genommen. In dem in der "Gazeta Wyborcza" veröffentlichten Text gab Bartoszewski zu, dass seine Äußerungen "nicht immer diplomatisch ausgewogen" gewesen seien. In Deutschland werde aber "zu leicht" Frau Steinbachs "konsequente Abneigung gegen Polen" vergessen. Bartoszewski schreibt weiter, die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen sollten sich auf die Wahrheit stützen. Er stelle aber mit Bedauern fest, dass die jüngsten Ereignisse "Mangel an nötiger Distanz und Demut" bei einigen Vertretern Deutschlands offenbart hätten.


Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.2009, Nr. 60, S. 4



Mehr Fingerspitzengefühl für Polen


Im Leitartikel von Berthold Kohler "Der Preis: ihr Kopf" (F.A.Z. vom 2. März) vermisse ich leider die Sensibilität, sich auch auf die polnische Seite einzustellen. Als Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen ist Frau Steinbach keinesfalls eine Ideal-, sondern eine glatte Fehlbesetzung. Sie war, wenn möglich, ständig auf Konfrontationskurs der polnischen Seite gegenüber. Verbindliches und Ausgleichendes, also Versöhnliches, konnte man von ihr noch nicht vernehmen. Mir ist jedenfalls nichts bekannt. Ihre Abstimmung gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie 1991 im Bundestag soll hier nur am Rande erwähnt sein. Dass ihr Vater aus Hanau stammte und im Range eines Feldwebels lediglich nach Polen versetzt wurde, wo sie 1943 zur Welt kam, macht sie nicht gerade zur idealen Vorsitzenden des Vertriebenenverbandes. Sie als Vertriebene anzusehen, weil sie mit eineinhalb Jahren mit den Eltern vor der herannahenden Roten Armee gen Westen flüchtete, ist weit hergeholt. Ihr Erinnerungsvermögen an diese Heimat tendiert wohl gegen null.

Das Vorhaben, sie auch noch in den Stiftungsrat für die Erinnerungsstätte zur Vertreibung zu entsenden, zeigt nur, wie wenig sensibel wir sind beziehungsweise wie wir bewusst auf Konfrontation und Provokation setzen. Etwas mehr Fingerspitzengefühl wäre hier angebracht.

ROBERT LEBOWITSCH, FRANKFURT AM MAIN

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.2009, Nr. 60, S. 9