Freitag, 20. März 2009

Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts



.. nun mal was anderes in der Tagespresse. Passt gut zum Frühlingsanfang.


Ich liebe dich, mein Feid

Karl Dedecius versammelt Polens moderne Lyriker

Von Stefanie Peter

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20. März 2009

Herr, schenk mir die kraft und die geschicklichkeit jener, die

lange vielästige sätze bauen, geräumig wie eichen,

wie ein riesiges tal, auf dass darin welten platz hätten, schatten

der welten, welten aus traum.

So steht es in „Brevier“, einem der letzten Gedichte, die Zbigniew Herbert vor seinem Tod im Jahr 1998 geschrieben hat. Es scheint, als wollte sich dieser wohl bekannteste polnische Lyriker des letzten Jahrhunderts am Ende seines Lebens zudem aus seiner angestammten Literaturgattung verabschieden.


Königsgattung der polnischen Literatur


Sind aber diese Verse nicht auch eine Todesanzeige der Gedichtkunst selbst? Zwar kennt die polnische Literaturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur große Lyriker – mit Witold Gombrowicz, St. I. Witkiewicz und Stanisław Lem wären sogar einige ihrer prominentesten Protagonisten zu nennen, die gar keine Gedichte geschrieben haben. Und doch hatte die Verskunst hier einen Stellenwert wie in kaum einer anderen großen europäischen Nationalliteratur. Gleich zwei polnische Lyriker – Wisława Szymborska und Czesław Miłosz – erhielten im vergangenen Jahrhundert den Nobelpreis; die Lyrik galt lange Zeit als Königsgattung der polnischen Literatur. Nicht erst seit der Jahrtausendwende haben aber Prosa-Autoren das Zepter fest in der Hand. Man kann in diesem Zusammenhang auf den 1970 in Oppeln geborenen Lyriker Tomasz Różycki verweisen – doch gilt der als Ausnahmetalent. Die beste polnische Lyrik findet sich heute in den Songtexten kluger Rapper, in der Popmusik.

Somit trägt die Anthologie „Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts“, die der große Übersetzer und unentwegte Kulturvermittler Karl Dedecius nun in einer zweisprachigen Ausgabe bei Insel vorlegt, Züge eines Nachrufs – diese Blütenlese versucht sich an einer letzten Bewahrung und Kanonisierung einer unwiederbringlich verlorenen Art. Dass die Buchdeckel dieses Bandes keine Grabsteine sind und sich beim Blättern, Stöbern und Lesen nicht das Gefühl einstellt, man müsse den Staub von den Seiten blasen – das liegt auch an den vielen Neuentdeckungen, die diese Sammlung gerade für den deutschen Leser bereithält.


Ich liebe dich, mein FEIND


Da finden sich zum Beispiel die „Küsse“ von Maria Pawlikowska-Jasnorzewska, ein Gedicht aus den zwanziger Jahren; der Vierzeiler ist eine Meditation über die dunkle Seite der Liebe:

Jede Tugend, gottgefällig,

nichtig mir scheint.

Mich macht nur eine selig:

Ich liebe dich, mein FEIND .

Die Tochter des berühmten Historienmalers Wojciech Kossak verfocht wie viele ihrer Schriftstellerkolleginnen der Zwischenkriegszeit auch für Frauen das Recht, Leidenschaft und Gefühle ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen auszuleben. Auch der Alltag, der bisher als unpoetisch gegolten hatte, floss in ihre pointierten Miniaturen ein:

Ich seh dich zögernd stehn vor kleinen Lachen,

mit Rose, Schirm, im Pelz, gemütlich warm,

ein Pekinesenhündchen unter deinem Arm . . .

Und wie wirst du den Schritt in die Unendlichkeit machen?

Da ist Antoni Słonimski, hierzulande allenfalls als Science-Fiction-Autor („Zweimal Weltuntergang“) bekannt, dessen kurzes Gedicht „Rebellion“ von 1920 dem Wesen des polnischen Revolutionärs gilt:

Mein Herz zu rühren braucht es nur sehr wenig.

Mein Wort entlädt sich leicht wie ein Gewehr.

Im Königreich bin ich ein Revolutionär,

Und in der Republik lobpreise ich den König.

Gedichte wie Köder

Liebesgedichte schrieb auch der Dichter, Übersetzer und Orientalist Wacław Rolicz-Lieder, ein Vorläufer des polnischen Modernismus. Von 1903 stammt das seinem deutschen Freund gewidmete Liebes-Poem „An Stefan George, mit einem Bild“:

Hier ist das Bild: Wie es uns widerfahren,

Das weiße Zimmer scheint auf uns zu warten,

Dort, wo im Abendrot vor vielen Jahren,

Als uns die Spatzen zwitscherten im Garten,

Zwei Seelen sich befangen offenbarten.

Rolicz-Lieder übertrug Georges Lyrik ins Polnische, und George lernte Polnisch, nur um Lieders Gedichte ins Deutsche übersetzen zu können. Selten hat sich deutsche und polnische Literatur so eindrucksvoll befruchtet wie hier.


Dieser Band legt Gedichte wie Köder aus, die uns zu Autoren und von dort weiter zu anderen Autoren führen; die Linien verästeln sich und ergeben am Ende ein vielfältigstes Geflecht aus Querverbindungen und Übertragungen. Zugleich spiegelt die Auswahl die persönlichen Lektürevorlieben ihres hoch verdienten Herausgebers. Es gibt Erstübersetzungen darin, aber auch Gedichte, die schon übersetzt waren. Dedecius, der demnächst achtundachtzig Jahre alt wird, erhebt durchaus den Anspruch, den gesamten Kanon der polnischen Lyrik in seiner eigenen Sprache zu fassen. Vielen Dichtern, darunter Milosz, der als „globaler Berufspendler“ galt, aber auch Szymborska, die immer in Krakau wohnen blieb, Adam Zagajewski, Ryszard Krynicki und sogar dem genialen Konstruktivisten Julian Przyboś ist Karl Dedecius persönlich begegnet. Und er hat ihr Werk einer deutschen Leserschaft überhaupt erst zugänglich gemacht.


Vom Fin de Siècle bis in die Gegenwart


Mit dem gleichaltrigen Tadeusz Różewicz verbindet ihn eine Freundschaft, wie er sie auch mit den bereits verstorbenen Zbigniew Herbert und dem großen Humoristen Stanisław Jerzy Lec

(„Es ist nicht ausgeschlossen zwischen dem einen und dem anderen Gedanken – glücklich zu sein“)
gepflegt hat.

Ein ganzes Jahrhundert der Poesie wird hier durchschritten, vom Fin de Siècle bis in die jüngste Vergangenheit. Der Leser verfolgt den Wandel der polnischen Sprache und spürt darin all jene Veränderungen auf, die das Land in dieser so dramatischen wie tragischen Epoche erlebte. Das macht diese Lyrikanthologie auch zu einem außergewöhnlichen Geschichtsbuch.


„Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts“. Polnisch und Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008. 543 S., geb., 38,– €.

Buchtitel: Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts
Buchautor: Dedecius, Karl

Text: F.A.Z., Nr. 67, 20. März 2009, Seite 34

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