Wohlstand ja, Kapitalismus nein: Das russische Volk sehnt sich nach dem Lebensstandard des Westens, will sich aber weiter im Gefühl moralischer Überlegenheit sonnen. Der Kapitalismus und die russische Seele kommen nicht zusammen. Russland steckt in der Klemme.
Serie „Die Zukunft des Kapitalismus“
Seelen im Sonderangebot
Von Viktor Jerofejew
30. Oktober 2009 Mit dem Kapitalismus stehe ich auf Kriegsfuß. In diesem Punkt bin ich meinem Volk nahe. Zwar bestätige ich gern die Vorteile des kapitalistischen Produktionssystems gegenüber dem Modell des sowjetischen Sozialismus, als dessen Opfer ich mich viele Jahre lang permanent gefühlt habe. Ich bin auch froh über das kapitalistische Paradies in den Moskauer Geschäften, ich schätze die Renaissance der russischen Küche in den Restaurants, und die aufdringliche Werbung überall nervt mich nicht besonders. Aber meine Seele, die werde ich dem Kapitalismus nicht verkaufen.
Der Kapitalismus hatte in Russland immer schon schlechte Karten. Für ihn bestand hier zu keiner Zeit eine moralische oder psychologische Grundlage. Die klassische russische Literatur feuerte ganze Breitseiten von Verachtung und Wut auf den Kapitalismus ab - und dies bereits seit seiner Entstehung. Einen besonderen Schlag gegen den Kapitalismus führte Nikolai Gogol schon um 1840 mit seinem Roman „Die toten Seelen“. Am Beispiel eines findigen Unternehmers, der Gutsbesitzern Listen verstorbener leibeigener Bauern abkauft, brandmarkte der Schriftsteller auf Jahrzehnte hinaus die Idee des Unternehmertums. Auf ihn folgten Dostojewskij, Tolstoi, Tschechow und später Gorki, der in der Verbannung auf Capri den revolutionären, antikapitalistischen Roman „Die Mutter“ schrieb, sodann Worte in Taten umsetzte und mit seinen Honoraren Lenins Kommunistische Partei unterstützte.
Die russische Intelligenzija, weit entfernt von der protestantischen Ethik und dem europäischen Egoismus des aufgeklärten Individuums, applaudierte den Schriftstellern bis hin zur Revolution. Als sie sich dann im Sozialismus wiederfand und plötzlich eines anderen besann, war es zu spät: Übrig blieben heimliche Erinnerungen an das süße Leben unter dem Zaren.
Marktwirtschaftliche Schocktherapie
Die ersten Erlasse Gorbatschows über die Rückkehr zum Privateigentum wurden von der Intelligenzija mit großem Enthusiasmus begrüßt. Doch als man in Vorbereitung auf die Marktwirtschaft mit der Schocktherapie begann, war die anfängliche Begeisterung beinahe augenblicklich verflogen. Überrumpelt von den liberalen Reformen, die mit einer unglaublichen Arroganz und Wurstigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Menschen durchgeführt wurden, begann die russische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit sich nach Breschnews Sozialismus der Stagnation zurückzusehnen - und diese Nostalgie hält bis heute an. Die Situation ist verfahren: Die Gesellschaft kann nicht vor und nicht zurück. Zum wirtschaftlich aussichtslosen kommunistischen System zurückzukehren, wäre für unser Land heute nicht nur sinnlos, sondern tödlich; es würde eine solche Rückkehr nicht überleben. Aber eine positive Entwicklung des Kapitalismus ist in Russland angesichts des bestehenden moralischen Widerstands gegen seine Normen ebenso aussichtslos.
Warum mögen die Russen den Kapitalismus nicht? Historisch erklärt sich das aus einer religiös begründeten Volksmoral, die den Einzelnen dem gemeinschaftlichen Ganzen unterordnet, das Leben auf der Erde als sündhaft und von teuflischen Mächten gelenkt begreift. Demut sowie Verweigerung jeglicher Erfolgsorientiertheit und Privatinitiative stellen das Herzstück der traditionellen russischen Weltanschauung dar. Darauf beruhte in vielerlei Hinsicht jene Form des östlichen Despotismus, die jahrhundertelang als Muster für die unumschränkte Herrschaft der Zaren diente, im Stalinismus vertieft wurde und neuerdings als nützliches Ideal hier und da wiederauftaucht.
Die Fratze des kapitalistischen Banditen
In der Jelzin-Periode der neunziger Jahre erhielt das notgedrungen wiederbelebte Modell des Kapitalismus - der Gorbatschow-Sozialismus mit menschlichem Gesicht hatte sich als Totgeburt erwiesen - eine stark ausgeprägte kriminelle Färbung. Es entstand die Spezies der „Neuen Russen“. Ihre Markenzeichen: himbeerfarbenes Jackett und dicke Goldkette um den Hals. Die reinsten Horrorgestalten, schrecklich und lächerlich zugleich. Ihr Anblick bot den Russen, die ihre Ersparnisse verloren hatten und sich im totalen wirtschaftlichen Chaos wiederfanden, weitere Gründe, den Kapitalismus zu hassen. Jelzin, offenbar erschrocken über die Ausmaße des Banditenkapitalismus, fand eine Alternative: Er unterstellte die Entwicklung des Kapitalismus der einzigen Institution, die ihre Struktur bewahrt hatte - den Geheimdiensten. Nach schwerem Kampf beseitigten diese die himbeerfarbenen Jacketts und rekrutierten aus eigenem Umfeld den zukünftigen Präsidenten.
Die wahre Rolle Putins, der ungehorsamen Oligarchen einen Maulkorb umhängte, wird in der Zukunft Gegenstand zahlreicher Diskussionen sein. Erlöser oder Bestrafer? Nach dem Vorbild des russischen traditionellen Konservatismus hat er Russland ein bisschen angefroren, damit es nicht endgültig auseinanderfällt, wobei er gleichzeitig Russlands demokratische, dem Volk keineswegs am Herzen liegende Perspektive opferte und nach und nach drei Begriffe verknüpfte: Staat - Kirche - Kapitalismus.
Aus historischer Sicht war daher Putin, trotz Wiedereinführung der sowjetischen Hymne, als Totengräber des russischen Kommunismus weitaus radikaler als Jelzin. Er verteidigte sehr pragmatisch die Zukunft des russischen Kapitalismus. Dass der Kapitalismus in den Händen des Staates seinen Unternehmergeist und die für seine Entwicklung notwendige Unabhängigkeit eingebüßt hat und durch den Prozess gegen Chodorkowskij, den ersten kapitalistischen Märtyrer jener Zeit in Russland, erschüttert ist, das steht auf einem anderen Blatt. Zugleich jedoch hat der Kapitalismus die in den neunziger Jahren geschmiedete Allianz der sogenannten „Silowiki“, also der Vertreter von Geheimdiensten und Armee, brutal zerschlagen, allein schon dadurch, dass er sie selbst zu Kapitalisten gemacht hat.
Aufblühender Nationalismus
An die Lebensfähigkeit des russischen Kapitalismus zu glauben, ist bis heute schwierig. Die propagierte Abgrenzung Russlands vom Westen und die Konflikte mit ehemaligen Sowjetrepubliken versetzen unseren Kapitalismus in eine missliche Lage - er ist nicht daran gewöhnt, isoliert zu existieren, er braucht stabile Absatzmärkte. Andererseits wird die auch in Russland angekommene Finanzkrise bei uns als das Böse aus dem Westen dargestellt. Russland hat die Bedeutung der globalen Krise noch nicht ganz begriffen: Das vergnügungssüchtige Moskau gibt sich nach wie vor ungestört von der Krise und amüsiert sich in Nachtclubs; die ferne Provinz war auch schon vor der Krise arm. Doch die veralteten Industrieanlagen aus Sowjetzeiten, die Angst vor Hyperinflation und Arbeitslosigkeit, die Rückständigkeit der Wirtschaft insgesamt, all das dringt allmählich ins Bewusstsein.
Einerseits blüht der Nationalismus - die Ideologie der Erniedrigten und Beleidigten - bis hin zu seinen radikalsten Formen. Wer die deutsche Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg kennt, dem ist das alles schmerzhaft bekannt. Die Angst vor möglichen orangefarbenen Revolutionen in Russland selbst, der Glaube, dass sie ein Produkt amerikanischer Konspiration seien, und der Wunsch, von den konservativen Orthodoxen ideelle Unterstützung zu erhalten, führen dazu, dass die Staatsmacht die demagogischen Parolen der Nationalisten duldet und auf einer bestimmten mittleren Ebene innerhalb der Rechtsschutzorgane sogar mit ihnen zusammengeht. Allerdings stellen die Nationalisten eine breite, zersplitterte Bewegung dar. Die einen schwören auf Stalin, die anderen auf das Volk, die Dritten auf das heilige alte Russland, die Vierten auf Hitler, die Fünften hassen den Kreml. Klar, dass der Kapitalismus unter den Nationalisten keine Überlebenschance hat.
Ewige Sinnsuche
Kehren wir zurück zur russischen Intelligenzija. Zwischen Sozialismus und Kapitalismus bewahrt sie eine distanzierte Neutralität, aber ihre Meinung interessiert ohnehin kaum jemanden; sie ist verloren und verwirrt, sie spürt ihre historische Rolle nicht. Außerdem hat die gesamte aufgeklärte russische Gesellschaft - besagte Intelligenzija, die Mittelschicht, Studenten, ein Teil der reichen Unternehmer - mit Einsetzen der Krise begonnen, über die ewigen Fragen des Seins nachzudenken. Wieder in Mode kommen die legendären Küchengespräche, Karamasowsche Diskussionen, Gespräche über den Sinn des Lebens. Es scheint, als trete gerade in diesen Gesprächen die Besonderheit der Russen hervor: die ewige Suche nach dem Sinn des Lebens. Sie suchen ihr ganzes Leben nach dem Sinn des Lebens und sterben schließlich, ohne ihn gefunden zu haben, ihre Kinder übernehmen den Staffelstab, danach die Enkel.
In den elitären Kreisen Moskaus überlässt die Philosophie des Glamours zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihren Platz den wiederauflebenden geistigen Werten. Übrigens sind die mir bekannten reichen Moskauer Unternehmer nicht der Meinung, dass Kapitalismus und geistige Werte unvereinbare Dinge seien. Überhaupt ist der schwarz-weiße Blick auf Russland in diesen Kreisen nicht in Mode. Es überwiegt hier der graue Blick - ein Gefühlsgemisch aus Optimismus und Pessimismus. Das heißt: Mit der Emigration hat man es nicht eilig. Das heißt: Mit dem arbeitenden Volk kann man sich einigen, man muss nur den richtigen Zugang zu ihm finden. Das heißt: Russland ist nicht für immer eingefroren, nach einer gewissen Zeit wird es aus dem konservativen Lager herausfinden und sich wieder der zivilisierten Welt zuwenden, obwohl es möglicherweise in seinen Ausmaßen schrumpfen wird. Zum Kapitalismus gibt es keine Alternative, davon sind die Anhänger der Modernisierung Russlands überzeugt. Mit dem Prozess der Modernisierung steht es indessen nicht zum Besten.
Die russische Variante des Kapitalismus
Die Geschichte des Kapitalismus im heutigen Russland habe ich in Miniaturformat in meinem Treppenaufgang studieren können. Mein Haus steht in einem zentralen Moskauer Stadtviertel, in einer stillen Gasse, einen Katzensprung von der Moskwa entfernt. Irgendwann einmal, vor der Revolution, wohnten in diesem sechsstöckigen Haus Ärzte aus einem nahe gelegenen großen Krankenhaus - offenbar keine armen Leute, die auch zu Hause Patienten empfingen. Die Revolution fegte all diese Ärzte hinweg; ihre Wohnungen verwandelten sich in „Kommunalki“, in denen vier und mehr Familien zusammengepfercht hausten. Vor etwa fünfzehn Jahren begann die betuchte Mittelschicht damit, die Moskauer Kommunalki aufzulösen - man kaufte separate kleine Wohnungen an der Peripherie und machte den Familien so den Auszug schmackhaft. Man selbst wollte in schönen, vorrevolutionären Wohnungen wohnen.
Aber nicht alle Kommunalki in einem Haus wurden aufgelöst; in meinem Treppenaufgang zum Beispiel blieb eine Kommunalka bestehen. Darin lebten zwei Brüder um die dreißig, die beschlossen, den kapitalistischen Weg einzuschlagen. Sie machten einen Trinkwassergroßhandel auf. Dieses Geschäft warf allem Anschein nach Gewinn ab. Alle Stockwerke in unserem Aufgang waren mit Zehnliterplastikflaschen zugestellt, denn die beiden Jungunternehmer hatten keine Lagerräume. Die Brüder veränderten sich: Sie trugen nur noch modische Kleidung und Schuhe, alles sehr schick und italienisch. Doch dann ging die russische Seele mit ihnen durch: Sie schwammen in Geld und begannen zu trinken - kein Wasser, versteht sich. Sie tranken und tranken, und einer der Brüder trank so viel, dass er starb. Der andere Bruder veranstaltete einen pompösen Leichenschmaus in der Kommunalka. Dabei - sein Bruder war eben erst unter die Erde gebracht - betrank er sich dermaßen, dass er ins Badezimmer verschwand und ebenfalls starb. In unserem Aufgang war es vorbei mit dem Trinkwasser-Kapitalismus. Weit und breit keine Plastikflaschen mehr. Der Kapitalismus steht still. Und was weiter wird, weiß niemand.
Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, veröffentlichte zuletzt den Essayband „Russische Apokalypse“.
Weitere Beiträge der Serie: Serie „Die Zukunft des Kapitalismus“ unter:
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