Mittwoch, 7. Januar 2009

Europa an der Oder-Neiße-Grenze

Nach Polen hinüberschlendern


Auch 2008 hat sich Europa weiterentwickelt - besonders an Deutschlands Ostgrenze / Von Stefan Dietrich


Viele fürchteten nach der Grenzöffnung einen Anstieg der Kriminalität. Das ist nicht passiert.


In der öffentlichen Wahrnehmung war das abgelaufene Jahr wieder einmal ein verlorenes für Europa. Das Nein der Iren zum Lissabonner Vertrag schien alle Integrationsbemühungen zu paralysieren. Für die Bürger der acht osteuropäischen EU-Länder, die am 21. Dezember 2007 dem Schengen-Raum beigetreten sind, war der Fortschritt aber unübersehbar. Quer durch Europa fahren zu können, ohne den Pass vorzeigen oder den Kofferraum öffnen zu müssen, ist für Esten, Litauer und Polen immer noch eine neue und beglückende Erfahrung. Die Älteren von ihnen erinnern sich noch gut an Zeiten, in denen sie vor jeder Auslandsreise erst einen Pass beantragen und dann tagelang vor fremden Konsulaten für ein Visum anstehen mussten.


Verschwunden sind die kilometerlangen Lastwagenschlangen vor der polnischen Grenze, obwohl der Lkw-Verkehr dort im vergangenen Jahr um mehr als zwanzig Prozent zugenommen hat. In den Zollhäuschen, die noch stehen, wird heute Geld gewechselt. Für deutsche Ostsee-Urlauber war es in diesem Jahr noch etwas Besonderes, einfach einmal am Strand entlang nach Polen hineinzuschlendern und zu spüren, wie sehr die berühmt-berüchtigte Oder-Neiße-Grenze ihren trennenden Charakter verloren hat. Studenten der Europa-Universität Viadrina aber überqueren die Oder zwischen Frankfurt und Slubice schon so selbstverständlich, als wechselten sie nur die Straßenseite.

Dem Wegfall der Grenzkontrollen hatte man auf deutscher Seite mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Die Gewerkschaft der Polizei hielt ihn für verfrüht; sie warnte vor einer Zunahme der Kriminalität und unkontrollierter Grenzübertritte. Die Befürchtungen haben sich als weitgehend unbegründet erwiesen. Nach Angaben des Innenministeriums in Brandenburg sind in den ersten zehn Monaten 2008 sogar knapp sechs Prozent weniger Straftaten in der Grenzregion registriert worden. Auch bei den Diebstählen gab es einen leichten Rückgang. An einzelnen grenznahen Orten in Brandenburg und Sachsen, wo zunächst eine auffällige Häufung von Fahrzeugdiebstählen vorkam, haben deutsch-polnische Sonderkommissionen diese Entwicklung gestoppt. Die Polizeigewerkschaft verweist zwar darauf, dass den amtlichen Zahlen nun eine höhere Dunkelziffer gegenüberstehe, spricht aber mittlerweile nicht mehr von gestiegener, sondern von gleich gebliebener Kriminalität.


Denn kontrolliert wird die Grenze natürlich auch jetzt noch, nur anders. Wie an allen Schengen-Binnengrenzen bestreichen Zoll- und Polizeistreifen einen jeweils dreißig Kilometer tiefen Grenzstreifen. Erlaubt sind sogar grenzüberschreitende Verfolgungen; Festnahmen allerdings nur mit Hilfe der zuständigen Landespolizei. Im gemeinsamen Lagezentrum in Swiecko arbeiten sechzig deutsche und polnische Beamte zusammen - alle zweisprachig -, die Verbindungen zu den verschiedenen Sicherheitsbehörden ihrer Länder haben. Anfragen zu gesuchten Personen, Fahrzeughaltern oder gestohlenen Autos werden dort nun sehr viel schneller abgewickelt, als das früher möglich war.


Während sich die negativen Auswirkungen der Grenzöffnung im erwarteten Rahmen hielten, gab es andere Entwicklungen, mit denen niemand so schnell gerechnet hatte. Furore machte vor einem Jahr "der erste deutsche Gastarbeiter in Polen", der an einer grenznahen Tankstelle die dort zahlreich vorfahrende deutsche Kundschaft bediente. Bei dem einen, der gewiss auch nicht der Erste war, ist es nicht geblieben. Stettin, die westlichste Großstadt Polens, zieht immer mehr Arbeitswillige aus Vorpommern und der Uckermark an, seit das Pendeln nicht mehr mit Grenzformalitäten verbunden ist. Umgekehrt hört man von wohlsituierten Stettinern, die im vorpommerschen Löcknitz Eigenheime bauen und Wohnungen kaufen, weil die Immobilienpreise dort unter denen auf der polnischen Seite liegen. Polnische Unternehmer investieren auf der deutschen Seite, weil sie dort leichter in den Genuss staatlicher Zuschüsse kommen und qualifiziertes Personal finden.


Neben der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko galt die deutsche Ostgrenze vor wenigen Jahren noch als diejenige mit dem stärksten Wohlstandsgefälle in der Welt. Damit vor allem hatten Deutschland und Österreich bei der Ost-Erweiterung der EU 2004 ihren Widerstand gegen eine sofortige Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt. Aus demselben Grund bestand Polen im Gegenzug darauf, den Immobilienerwerb für Deutsche für eine Übergangszeit zu beschränken. Die Gründe für diese Restriktionen, die zum 1. Mai 2009 letztmalig bis 2011 verlängert werden können, sind mittlerweile weitgehend entfallen: Einerseits haben sich die Grundstückspreise in attraktiven Lagen deutlich angenähert, andererseits wirken die Arbeitsbeschränkungen für Polen in den deutschen Grenzregionen mittlerweile eher als Hemmschuh denn als Schutz für die eigene Entwicklung.


Für die Regierung in Warschau sei Arbeitnehmerfreizügigkeit schon "das Thema von gestern", sagte Maciej Duszczyk, ein Berater von Ministerpräsident Tusk, im Dezember beim Deutsch-Polnischen Forum in Berlin. "Unser Thema heute ist die Rückkehr der Migranten." Polen wirbt aktiv und mit Erfolg um jene, die in Großbritannien und Irland, wo sie freien Zugang hatten, Arbeit fanden. Der Kursverfall des Pfundes und die gestiegenen Löhne in der Heimat erleichtern manche Entscheidung zur Rückkehr. Viele Arbeitsmigranten hatten ohnehin ihre Familien in Polen zurückgelassen und sich nur auf Zeit im Ausland verdingt. Die deutsch-polnische Kopernikus-Gruppe appellierte Ende Dezember an die Bundesregierung, die bestehenden Restriktionen nicht noch einmal zu verlängern, weil die beiderseits damit verbundenen Befürchtungen - Angst vor ungebremstem Zuzug von Billigarbeitskräften hier; Angst vor deutschem "Drang nach Osten" dort - gegenstandslos geworden seien.


Die Wahrscheinlichkeit, dass die Politik im Wahl- und Krisenjahr 2009 ihrem Appell folgen werde, schätzt die Kopernikus-Gruppe selbst gering ein. Doch schon der Befund, wie sehr sich die Verhältnisse an der einst so schmerzhaft empfundenen und mit Konflikten beladenen Oder-Neiße-Grenze verändert haben, ist ein deutliches Indiz dafür, dass Europa auch dann nicht stillsteht, wenn es in Brüssel einmal keine Fortschritte zu geben scheint.


Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.01.2009, Nr. 2, S. 10


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