Krieg – 70 Jahre danach – Nie wieder Krieg!
Heute kann man viele Ansichtspunkte, die den Krieg betreffen, ansprechen, die Ursachen und Gründe benennen, hypothetische Szenarien „was wäre wenn“ unterbreiten...
Ich möchte allen den gedenken, die damals gelitten haben und deren Leben für immer durch den Krieg und seine Konsequenzen gezeichnet blieb... ich wage deshalb dem Leid und dem Grauen ins Gesicht zu blicken... der Bericht von Konrad Schuller bietet die Gelegenheit dazu.
Mein Vater war damals, am 1. September 1939, acht Jahre alt. Er hat überlebt... sein Vater nicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.09.2009, Nr. 202, S. 11
Kein Haus blieb verschont
Bei "Pazifizierungen" im besetzten Polen haben deutsche Truppen oft ganze Dörfer vernichtet. Im Fall von Borow sprechen aus den Akten auch die Täter.
Ein Bericht von Konrad Schuller
Es war am 2. Februar 1944 im von Deutschen besetzten Polen, am Feiertag Mariä Lichtmess, zu dem die Bauern geweihte Kerzen aus den Kirchen heimnehmen, um übers Jahr vor Blitzschlag geschützt zu sein. Auf dem Altar der kleinen, mit Gläubigen aus den umliegenden Weilern überfüllten Holzkirche von Borow legte Kaplan Stanislaw Skulimowski gerade Kelch und Hostienschale für die Feier der Eucharistie zurecht, als ein Amtsbruder das Kirchenschiff betrat.
Die Aussagen der Zeugen, die damals vom Gestühl oder von der Empore mit der goldverzierten Orgel aus die Szene beobachteten, stimmen nicht völlig überein. Es scheint aber, dass der Ankömmling, Pfarrer Wladyslaw Stanczak, der an diesem Morgen eigentlich in der Umgebung zu dem traditionellen Hausbesuch am Ende der Weihnachtszeit, der "Koleda", unterwegs war, zielstrebig die barocke Kanzel des Kirchleins bestieg, die Hände hob und in einem Ton, der als Sprechen begann und wegen des aufkommenden Lärms als Schreien endete, in die Menge rief, jeder, der laufen könne, möge nun laufen; die Deutschen kämen, die Dörfer im Walde stünden schon in Flammen, und wer jetzt nicht renne, müsse sterben.
Viele sind damals gerannt. Einige haben sich in den Wäldern retten können, die meisten aber, die damals die Warnung hörten, haben den kommenden Tag nicht mehr erlebt.
Die Szene, mit welcher der Untergang der fünf Dörfer Borow, Lazek Chwalowski, Lazek Zaklikowski, Szczecyn und Wolka Szczecka im letzten Jahr der deutschen Herrschaft in Polen begann, wird noch heute von den Überlebenden jenes Tages geschildert. Sie war der Beginn einer "Befriedung" - einer jener umfassenden Mordaktionen, wie sie für die Politik im "Generalgouvernement", dem als Sklavenreservat betriebenen Rest des zerschlagenen Polen, typisch waren.
Als Pfarrer Stanczak in der Kirche erschien, hatte sich der Ring der deutschen Schützenketten um die fünf Dörfer schon geschlossen. Trupps von zwei, drei Mann zogen systematisch von Haus zu Haus, erschossen Frauen, Kinder und Männer, zündeten Häuser und Ställe an. Das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) in Lublin, dessen Staatsanwaltschaftliche Abteilung bis heute dieses Verbrechen untersucht, hat dieser Zeitung mitgeteilt, nach gegenwärtigem Wissen seien so am Lichtmesstag 1944 in Borow und in den umliegenden Dörfern 917 Menschen ermordet worden.
Diese "Pazifizierungen", wie heute in Polen die Vernichtungen ganzer Dörfer durch deutsche Truppen genannt werden, sind außerhalb des Landes so gut wie unbekannt geblieben. Die Welt kennt zwar das Ende von Oradour-sur-Glane in Frankreich oder Lidice in der Tschechoslowakei. Aber dass nach der Zählung des Historikers Czeslaw Madajczyk "Befriedungen" nach dem Muster der Aktion vom Lichtmesstag 1944 - also Terroraktionen mit jeweils mehr als zehn Todesopfern - in Polen etwa 750 Mal vorgekommen sind, ist in das historische Bewusstsein Europas nicht eingedrungen. Die Mordexpeditionen richteten sich meist gegen Dörfer, deren Bewohner im Verdacht standen, Partisanen zu unterstützen, oder gegen solche, die ihrer Pflicht zur Ablieferung landwirtschaftlicher Produkte für die Kriegswirtschaft nicht nachgekommen waren. Madajczyk zufolge sind bei diesen Kollektivmorden in Polen etwa 19 000 Menschen ums Leben gekommen. Oft genug - wie etwa bei der Aktion um Borow am 2. Februar 1944 - haben die deutschen Täter die Dorfbevölkerung vollständig vernichten wollen.
Bisher lagen Historikern und Staatsanwälten vor allem die Vernehmungsprotokolle polnischer Überlebender sowie einige sehr allgemein gehaltene Aktenvermerke der deutschen Besatzungsbehörden vor. In diesen Akten finden sich Beschreibungen des Massakers, wie etwa die des Pfarrers Stanczak, der die Gemeinde damals in der Kirche gewarnt hatte und die Mordaktion danach versteckt überlebte. Dieser Zeitung ist es jetzt gelungen, in deutschen Justizakten neben Berichten überlebender Opfer auch Zeugnisse der deutschen Teilnehmer ausfindig zu machen. Die Dokumente bieten erstmals ein detailliertes Bild einer "Pazifizierung" aus Sicht der Täter.
"Die Deutschen erschossen . . . alle, die sie trafen, und warfen die Ermordeten ins Feuer", berichtete Pfarrer Stanczak. "Die Leute erzählten auch, manche seien lebendig in die Häuser gesperrt und verbrannt worden." Andere Überlebende berichteten konkreter. Kazimierz Urbanski etwa, der damals zwölf Jahre alt war, gab Folgendes zu Protokoll: "Die (deutsche) Armee schoss auf die Leute, die aus den Häusern rannten. Ich sah, wie sie meinen Vater auf der Straße erschossen. Später haben die Nachbarn, die sich retten konnten, gesagt, dass sie auch in den Häusern schossen. Als meine Mutter starb, lief ich mit dem kleinen Jungen auf den Hof, und er wurde ebenfalls erschossen. Ich konnte mich zuerst hinter einem Schornstein verstecken, dann rannte ich auf den Hof der Nachbarn, wo das Haus schon brannte."
Mehrere Zeugen berichten, dass die Soldaten an diesem Tag auch Kinder töteten. Von Maria Jagiello aus Wolka Szczecka, die damals ebenfalls zwölf Jahre alt war, überliefern die polnischen Akten folgende Aussage: "Ich sah, wie ein Soldat ein kleines, in Lumpen gekleidetes Kind am Händchen hochhob und ein zweiter das Kind mit etwas (ich erkannte nicht, womit) erstach. Danach haben sie das Kind in das brennende Haus geworfen."
Die Handlungsweise der Mordtrupps in einzelnen Häusern wird aus der Vernehmungsniederschrift der damals 48 Jahre alten Marianna Mazurek deutlich. Sie erzählte dem vernehmenden Richter im Jahr 1949, wie sie zusammen mit mehreren anderen Frauen von den Soldaten in ihrem Versteck am Dorfbach entdeckt wurde. "Sie brachten uns zu meinem Haus und befahlen allen, sich mit dem Gesicht zur Erde auf den Boden zu legen. Ich begann um mein Leben zu bitten, indem ich sagte, ich hätte einen vierzehn Jahre alten Jungen, der meine Pflege noch brauche. Als Antwort stieß mich einer der Soldaten so hart mit dem Karabiner vor die Brust, dass ich auf den Rücken fiel. Ich wollte mich gerade auf den Befehl dieses Soldaten mit dem Gesicht zur Erde legen, als sich Schüsse lösten. Ich fühlte, dass ich am linken Arm verletzt war und dass die rechte Hand durchschossen war. Ich stellte mich tot und sah, wie die Soldaten die Bettwäsche auf zwei Betten anzündeten und die Fenster einschlugen. Als sie hinausgingen, stand das Haus in Flammen. Ich kroch als Einzige hinaus und versteckte mich im Außenkeller."
Bis heute ist nicht bekannt, wer den Befehl zu der Vernichtung der fünf Dörfer um Borow gegeben hat. Allerdings besteht kein Zweifel, dass die Vernichtung ganzer Ortschaften zum Vorgehen der deutschen Besatzung im Kampf gegen die polnische Widerstandsbewegung gehörte. Die Vorgaben stammten von Hitler selbst: "Vernichtung Polens im Vordergrund", schärfte er am 22. August 1939, wenige Tage vor Kriegsausbruch, in einem Vortrag vor Angehörigen der Wehrmachtführung seinen Generalen ein. "Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte . . . Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen." Vor allem, notierte der Protokollant, "seien alle Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen. Dies klinge hart, aber es sei nun einmal das Lebensgesetz." Die "Totenkopfverbände" der SS hätten deshalb Befehl, "unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken". - "Seien Sie hart, seien Sie schonungslos", verlangte Hitler. "Handeln Sie schneller und brutaler als die anderen. Die Bürger Westeuropas müssen vor Entsetzen erbeben."
Der Reichsführer SS Heinrich Himmle, machte aus diesen Richtlinien konkrete Befehle, denen zufolge Dörfer, die Partisanen Unterstützung gewährten, bis auf die nackte Erde zu verbrennen seien. Für die Wehrmacht verfügte der Chef des Oberkommandos, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, in einem Befehl vom 16. Dezember 1942, dass im "Bandenkrieg" weder der Begriff der soldatischen Ritterlichkeit noch die Genfer Konvention Geltung haben dürften. Auch gegen Frauen und Kinder seien alle notwendigen Mittel ohne Zögern anzuwenden.
Nach dem Krieg wurden in Polen mehrere Strafverfahren gegen führende deutsche Offiziere im Distrikt Lublin geführt, so etwa gegen den SS- und Polizeiführer Jakob Sporrenberg, sowie - für die Wehrmacht - gegen den Chef der Oberfeldkommandantur 372, Generalleutnant Hilmar Moser. Keinem der beiden Angeklagten konnte aber eine Schuld an der "Befriedungsaktion" vom 2. Februar 1944 nachgewiesen werden. Moser kam 1953 frei, Sporrenberg wurde 1952 in Warschau wegen anderer Verbrechen gehängt - vor allem wegen der Teilnahme an der Aktion "Erntefest", der Erschießung von mehr als 40 000 Juden im Konzentrationslager Majdanek und an anderen Orten im November 1943.
Die polnische Staatsanwaltschaft hatte Sporrenberg zwar die Verantwortung für die "Pazifizierung" von 43 Ortschaften zur Last gelegt, aber das Berufungsgericht Lublin folgte der Anklage nicht. In ihrer Urteilsbegründung schrieben die Richter, sie hätten keine hinreichenden Beweise gefunden, "um dem Angeklagten die Teilnahme an diesen Pazifizierungen zuzuschreiben". Es gebe keine Zeugenaussagen, "aus denen man folgern könnte, dass die Täter dieser Morde Untergebene Sporrenbergs waren, die eine von ihm geplante Befriedung durchführten".
Auch andere Spuren erwiesen sich nicht als weiterführend. Hinweise im Verfahren gegen Sporrenberg, nach denen der Befehl zur Aktion vom Lichtmesstag 1944 von Hans Frank, dem deutschen Generalgouverneur im besetzten Polen, persönlich gekommen sein könnte, ließen sich nicht erhärten. Der Fall "Borow" wurde zwar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder eröffnet, aber in den Akten des IPN Lublin, dessen Staatsanwälte das Verfahren führen, ist vermerkt, dass der Ursprung des Vernichtungsbefehls nach wie vor unklar sei: "Im analysierten Archivmaterial konnten keine Dokumente gefunden werden, die auf die Person hinweisen, welche den Befehl zur Pazifizierung der Dörfer Szczecyn, Wolka Szczecka, Borow, Lazek Zaklikowski und Lazek Chwalowski gegeben hat."
Die Ratlosigkeit der Staatsanwälte hängt auch damit zusammen, dass bisher nur wenige deutsche Dokumente über die Mordaktion vom 2. Februar 1944 gefunden worden sind. Dennoch ist schon seit Jahren das eine oder andere bekannt. So findet sich im Staatsarchiv Lublin eine deutsche "Lagemeldung" vom folgenden Tag, dem 3. Februar 1944. Darin vermerkt der "Kommandeur der Ordnungspolizei im Distrikt Lublin - Ia" eine "Großaktion" durch "starke Kräfte der Truppenpolizei, Wehrmacht und Sicherheitspolizei zwecks Vernichtung einer dort festgestellten, angeblich 600 Mann starken bolschew(istischen) Bande. Bei Niederwerfung von Widerstandsnestern durch Geschützbattr., Pak und Granatwerfer gerieten die genannten Dörfer in Brand und brannten infolge des herrschenden Sturms restlos ab . . . Nach bisherigen, noch nicht abgeschlossenen Meldungen wurden rund 480 Banditen und Verdächtige im Feuerkampf bezw. auf der Flucht erschossen."
Die Meldung unterscheidet sich insoweit von den polnischen Zeugenaussagen, als sie den Angriff auf Borow und die umliegenden Dörfer nicht als Massaker an wehrlosen Bewohnern darstellt, sondern als Gefecht mit starken Partisaneneinheiten. Dies steht im krassen Widerspruch zu den Erinnerungen der Überlebenden. Diese bestreiten nicht, dass sich damals vor allem in den leerstehenden Häusern längst ermordeter jüdischer Dorfbewohner tatsächlich Partisanen versteckt hielten. Keine Hinweise gibt es aber auf bewaffneten Widerstand am Tag der Mordaktion. So stellte unter anderen der Historiker Marek Jan Chodakiewicz dar, dass die Partisanen in den Dörfern den Angriff früh bemerkt hätten und rechtzeitig in die Wälder geflohen seien. Die Besatzer fanden deshalb in den Dörfern fast nur Zivilisten vor.
Dass die deutschen Meldungen vom soldatischen Kampf nicht zutreffen können, ist schon aus den damaligen Begleitnotizen in den Besatzungsakten ersichtlich. Als Beute der "Großaktion" mit "480" getöteten Feinden werden hier ganze drei Gewehre vermerkt, dazu drei Karabiner, ein Revolver, drei Handgranaten, drei MG-Magazine und 172 Schuss Munition - nicht viel für die Bewaffnung einer "600 Mann starken bolschew Bande".
Der eigentliche Charakter des Angriffs vom 2. Februar ist damit schon aus zeitgenössischen deutschen Akten ersichtlich. Dennoch ist bisher vieles unklar geblieben. Die deutschen Papiere geben beispielsweise außer dem Hinweis auf "Truppenpolizei, Wehrmacht und Sicherheitspolizei" keinen Aufschluss über die eingesetzten Einheiten. Aus den Aussagen der Dorfbewohner geht allerdings hervor, dass nicht alle Angreifer Deutsche waren. Viele sprachen eine slawische Sprache, welche die Zeugen als "Ukrainisch" identifizierten; andere hörte man polnisch reden. Dazu passt, dass die deutsche Polizei und die SS damals tatsächlich in den umliegenden Stützpunkten "fremdvölkische" Hilfstruppen unterhielten, unter ihnen offenbar Russen, Ukrainer und Kalmücken. Die Fachleute des IPN in Lublin vermuten, dass diese Kämpfer zur SS-Division "Galizien" gehörten, die vorwiegend aus ukrainischen "Freiwilligen" bestand.
Jüngst ist es gelungen, anhand von in Münster lagernden deutschen Justizakten ein SS-Polizeibataillon zu identifizieren, das neben anderen Einheiten mit großer Wahrscheinlichkeit an der "Befriedungsaktion" vom 2. Februar 1944 beteiligt war. Die Akten enthalten Zeugenaussagen mehrerer Soldaten, welche die Darstellung eindeutig widerlegen, der Angriff auf die Dörfer um Borow sei ein Gefecht gegen starke Partisanenverbände gewesen. Vielmehr bestätigt sich das Bild, das sich aus den Aussagen polnischer Überlebender ergibt - das Bild eines Blutbades unter Frauen, Kindern und Alten in fünf wehrlosen Dörfern.
Die Spur zu den Tätern hat in den Dörfern selbst begonnen. Überlebende nannten dieser Zeitung einen damals berüchtigten Befehlshaber, den SS-Oberscharführer Otto L. Mehrere Zeugen wollten ihn während der Aktion erkannt haben. Recherchen ergaben, dass die deutsche Justiz schon in den sechziger Jahren ein Verfahren gegen L. vorbereitet hatte. 1965 erging ein Haftbefehl gegen ihn, der aber nicht vollstreckt werden konnte, weil Otto L. sich kurz vorher erhängt hatte - ihm war eine Vorladung zu einer polizeilichen Zeugenvernehmung zugestellt worden. L.s Selbstmord beruhte auf einem ironischen Irrtum: Er sollte in einer ganz anderen Sache vernommen werden, doch seine Tochter sagte später aus, ihr Vater habe sich vermutlich das Leben genommen, weil er nach seiner Vorladung fürchtete, wegen seiner Verbrechen im Krieg zur Rechenschaft gezogen zu werden.
In den Akten der "Strafsache gegen L. Otto u. A. wegen Mordes und Beihilfe zum Mord", die seinerzeit von der Staatsanwaltschaft Dortmund zur Vorbereitung eines Prozesses angelegt wurden, finden sich mehrere Aussagen von Angehörigen des Polizeibataillons 316, das später in I./SS-Polizeiregiment 4 umgetauft wurde und Anfang 1944 in der unmittelbaren Umgebung der Dörfer um Borow stationiert war. Die Einheit war vorher schon bei Judenpogromen und Massenerschießungen in Russland, Frankreich und Jugoslawien im Einsatz gewesen.
Mitglieder dieses Verbandes schildern in vielen Einzelheiten eine "Befriedungsaktion" Anfang 1944. Doch weil keiner von ihnen angesichts des täglich verübten Terrors die Namen der vernichteten Orte in Erinnerung hat, lässt sich nur durch die Koinzidenz von Zeit, Ort und Umständen folgern, dass das beschriebene Massaker mit der "Befriedungsaktion" zu Mariä Lichtmess 1944 in Borow identisch ist. Die Übereinstimmungen sind allerdings deutlich genug. Die Justizakten der unvollendeten Strafsache Otto L. enthalten denn auch einen "abschließenden Vermerk", dem zufolge das I./SS-Polizeiregiment 4 damals tatsächlich "zur Liquidierung von Juden und bei Befriedungsaktionen eingesetzt" war. Die Vernichtung der fünf Dörfer um Borow fällt also mit großer Sicherheit unter anderem in die Verantwortung dieses Verbandes.
Die archivierten Vernehmungsprotokolle der Staatsanwaltschaft Dortmund beschreiben zum ersten Mal aus deutscher Sicht eine jener "Pazifizierungen", wie sie in Polen während des Krieges in mehreren hundert Fällen vorgekommen sind. Einige der deutschen Soldaten bleiben dabei bei allgemeinen Feststellungen, so etwa der spätere Polizist Marino B. aus Bochum, der lediglich bestätigt, er erinnere sich an einen Einsatz, bei dem "alle" Bewohner eines Dorfes erschossen worden seien. Auch der Bauarbeiter Johann B. aus Daun in der Eifel oder der "Spieß" der ersten Kompanie, August Friedrich Wilhelm F. aus Hagen, berichten nur ganz allgemein von einer "Befriedungsaktion" Anfang 1944, bei der die Einwohner eines Dorfes "niedergemacht" worden seien.
Andere Aussagen gehen mehr in die Einzelheiten. Josef K. etwa erinnert sich, wie vor Beginn des Mordeinsatzes zwei Angehörige des SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) vor den angetretenen Soldaten eine Rede hielten, "wobei sie erklärten, die auszurottende Bevölkerung jenes Dorfes habe den Tod verdient, weil sie Partisanen unterstützte".
Wie es weiterging, wird aus dem Bericht des späteren Polizeimeisters Kurt G. aus Insterburg deutlich. "Unterstützt von einigen Hilfswilligen - in erster Linie Kalmücken - wurde das betreffende Dorf in den frühen Morgenstunden umstellt. Die Hilfswilligen nahmen das Dorf, das m. E. etwa 250-300 Einwohner zählen musste, mit Granatwerfer unter Beschuss. Sodann drangen die Hilfswilligen in das Dorf ein und erledigten alles, was vor ihre Gewehre kam . . . Die Hilfswilligen hatten den Auftrag, das im Dorf gefundene Vieh herauszutreiben. Nachdem dieses geschehen war und die Dorfbevölkerung liquidiert worden war, wurde das Dorf in Brand gesetzt."
Karl G. aus Mönchengladbach, später ebenfalls Polizist, beschreibt das Vorgehen der einzelnen Mordtrupps so: "Ich gehörte zu der Schützenkette, die das Dorf von außen abriegelte. Unter Führung meines Komp.-Chefs, Hptm. E., wurde das Dorf angezündet, und zwar durch kleine Trupps von 2, 3 Mann. Es handelte sich hier um ein kleines altes Dorf von etwa 20 eingeschossigen Dorfhütten mit Strohdächern . . . Zuerst betraten die Trupps die unverschlossenen Häuser, in denen die Leute noch geschlafen haben können. Kurz danach hörten wir in den Häusern Entsetzensschreie, und es waren auch MP-Feuerstöße zu hören. Danach erst zündeten diese Trupps die Häuser an. Es dauerte keine Stunde, da war das ganze Dorf eingeäschert. Die Sperrkette war so dicht, dass es absolut unmöglich war, dass jemand das Dorf während der Vernichtungsaktion verlassen konnte . . . Ich nehme an, dass die Dorfbewohner sämtlich erschossen waren, bevor sie verbrannten."
Beinahe identisch sind die Beobachtungen des Rohproduktenhändlers Heinrich G. aus Heiligenkirch: "Das Dorf wurde umzingelt, und ich gehörte zur äußeren Absperrung", sagte G. bei seiner Vernehmung nach dem Krieg. "Betonen möchte ich, dass die wehrfähigen Männer vom Jünglingsalter bis zu etwa 35 Jahren gar nicht anwesend waren. Wir vermuteten, dass diese jüngeren Leute, soweit sie nicht schon gefallen waren oder sich in Gefangenschaft befanden, in den umliegenden Wäldern als Partisanen hausten und durch die Hausbewohner beziehungsweise Angehörigen unterstützt wurden. In kleinen Trupps betraten nun die Polizei und SD-Angehörige die Häuser schlagartig, und kurz danach mussten sich die Hausbewohner vor ihren Häusern aufstellen, wie uns gesagt worden ist. Es fielen auch zahlreiche Schüsse. Natürlich hörte ich auch das Geschrei der Leute und das Gebrüll beziehungsweise die lauten Kommandos . . . Als die äußere Absperrung nach einiger Zeit eingezogen wurde, brannte bereits die Ortschaft lichterloh. Es blieb kein Haus verschont . . . Die Kinder und Frauen sowie die Greise überlebten die Vernichtung ihres Dorfes nicht. Sie wurden erschossen, und ihre Leichen verbrannten."
Neben solchen Zeugen, die sich vor allem als Beobachter darstellen, gibt es auch solche, die nach einigem Zögern zugeben, selbst gemordet zu haben. Der Weber Peter S. aus Süchteln etwa gibt zu Beginn noch vor, er könne sich nicht genau erinnern: "Ich weiß heute nicht mehr genau, ob ich zur äußeren Absperrung oder zu einem der kleinen Trupps gehörte, die befehlsgemäß in die unverschlossenen Häuser eindrangen, wo sie die Leute anwiesen, sofort vor das Haus zu treten", sagt er bei seiner Vernehmung durch das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen am 2. Juni 1960. Dann aber gibt er sich offenbar einen Ruck und erzählt unmittelbar aus dem Geschehen: "Wer nicht sofort herauskam, wurde in dem Tumult zu Haus erschossen, zumal sich auch mancher wohl zur Wehr setzte. Die meisten Dorfbewohner wurden vor ihren Häusern durch uns mit Karabinern beziehungsweise durch die Unterführer mit MP erschossen. Mit meiner Gruppe habe ich die Bewohner von 3 bis 4 Häusern erschießen müssen. Meine Gruppe hatte die Bewohner der 3-4 Häuser geschlossen von Fall zu Fall erschossen, wie es der Befehl von uns verlangt . . . Bei den Erschossenen handelte es sich um Kinder, Frauen und Greise, da die Männer schon das Weite gesucht hatten, wie es uns die beiden SD-Leute schon vor dem Einsatz . . . bekanntgaben. Auf die Frage, ob die Opfer uns vor der Erschießung um Gnade anflehten, kann ich nur sagen, dass mir diese Menschen furchtbar leid taten, da ich damals auch schon Frau und Kind hatte, aber was blieb mir anders übrig, als diesen furchtbaren Befehl auszuführen."
Die meisten haben damals gehandelt wie Peter S. aus der Weberstadt Süchteln. Manche, etwa der früh verwaiste Bauarbeiter Lorenz D., der Zeugenberichten zufolge bei Pogromen mit einer Peitsche auftrat und im Heimaturlaub weiblichen Bekannten erläuterte, wie man in Kiesgruben hinrichtet (mit Gummischürze, die Kinder zuerst, dann die Mütter), sagten später aus, sie hätten "keine Möglichkeit und Veranlassung" gesehen, die Befehle zu missachten. Andere, wie der spätere Polizist Karl G. aus Mönchengladbach, versicherten, sie hätten ihre Opfer "sehr bedauert", aber wegen der Gefahr, selbst standrechtlich erschossen zu werden, getan, was befohlen worden war.
Dass es auch eine andere Möglichkeit gab, erweist die protokollierte Aussage von Maria Jagiello aus Wolka Szczecka, die auch vom Tod des erstochenen Kindes berichtete: Zusammen mit anderen habe sie schon mit dem Gesicht am Boden gelegen und um Verschonung gefleht, als die Soldaten, die sie töten sollten, ihr sagten, "dass sie uns nicht umbringen, aber verlangen, dass wir uns auf die Erde legen und bis zur Nacht unbewegt liegenbleiben, weil sie die Ausführung des Befehls melden müssen. Nach Abgabe einiger Schüsse, die niemanden von uns verletzten, gingen sie fort."
Nach dem Krieg sind mehrere Angehörige des Polizeibataillons 316 wegen der Verbrechen ihrer Einheit vor Gericht gestellt worden. Das Schwurgericht Bochum sprach 1968 allerdings alle Angeklagten wegen Mangels an Beweisen oder unter Hinweis auf den Befehlsnotstand frei.
Eine ausführliche Darstellung ist unter dem Titel "Der letzte Tag von Borow" im Verlag Herder erschienen.
Kastentext:
"Ich sah, wie sie meinen Vater auf der Straße erschossen. Später haben die Nachbarn, die sich retten konnten, gesagt, dass sie auch in den Häusern schossen."
"Nach bisherigen, noch nicht abgeschlossenen Meldungen wurden rund 480 Banditen und Verdächtige im Feuerkampf bezw. auf der Flucht erschossen."
"Auf die Frage, ob die Opfer uns vor der Erschießung um Gnade anflehten, kann ich nur sagen, dass mir diese Menschen furchtbar leid taten, da ich damals auch schon Frau und Kind hatte, aber was blieb mir anders übrig, als diesen furchtbaren Befehl auszuführen."
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