Refrath Saahler Mühle
Von Dan Diner
Vor siebzig Jahren wurde in Moskau der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen – ein unheimliches Zeichen der Zeit
Am 24. August 1939 wurde in Moskau – mit dem Datum vom 23. August – der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet: vom deutschen Reichsaussenminister Joachim von Ribbentrop und vom sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow. Seine historischen Voraussetzungen waren ebenso komplex wie seine Folgen.
Polnische Perspektive
Als der «imperialistische» Krieg im Frühsommer 1940 indes wider sowjetisches Erwarten keineswegs die erhofften Muster des Grossen Krieges der Jahre 1914/18 wiederholte, sondern stattdessen in einem für alle überraschenden französischen Zusammenbruch endete, klangen die damals von Molotow der Reichsführung übermittelten Glückwünsche schon erheblich verhaltener. Und als die Sowjetunion als Reaktion auf den deutschen Sieg über Frankreich die baltischen Staaten und Bessarabien überhastet annektierte, stiess dieses Vorgehen in Berlin nicht gerade auf einhellige Zustimmung. Zunehmend bildeten sich am Horizont die Konturen zukünftiger deutsch-sowjetischer Zwistigkeiten aus – dies vor allem anhand widerstreitender Bestrebungen auf dem Balkan, genauer in Bulgarien. Dies alles freilich ganz unabhängig von dem ideologisch feststehenden Begehren Hitlers, die Sowjetunion alsbald in einem verheerenden Vernichtungskrieg niederzuwerfen.
Aus polnischer Perspektive, vor dem Hintergrund leidvoller, geopolitisch bedingter Erfahrung mit übermächtigen Nachbarn im Westen und Osten, nahm sich das deutsch-sowjetische Zusammenspiel des Jahres 1939 aus wie eine historische Wiederholung. Erlebt wurden der deutsche Überfall und die sowjetische Teilnahme als vierte Teilung Polens – freilich verschärft um ein ideologisches Novum: den als gleichermassen totalitär erfahrenen Charakter des Nationalsozialismus deutscher und des Kommunismus russischer Prägung. Der sich daraus ergebende polnische Antitotalitarismus ist dieser Umstände wegen national imprägniert. Die tragische machtpolitische Konstellation des zwischen Deutschland und Russland gelegenen Landes wird in ein freiheitliches, tief im 19. Jahrhundert verwurzeltes Pathos übergeführt. So wird der 23. August 1939 auch zu einer Art von Gründungsdatum der Verkehrung all dessen, was der Tugend der ersehnten Freiheit in Gestalt der polnischen Nation entspricht.
Die Totalitarismustheorie
Auch für die westliche, vornehmlich angelsächsische Vorstellung von Totalitarismus ist der 23. August 1939 so etwas wie ein Gründungsdatum, wenn auch von einer anderen Art. Die anfängliche Bestürzung im Westen darüber, dass offensichtlich antagonistische Regime wie Nationalsozialismus und Kommunismus über Nacht ihre Gegensätze hintanzustellen in der Lage sind, um gemeinsam zu handeln, hat der späterhin wirksamen Theorie vom Totalitarismus Auftrieb gegeben – vor allem in der Zeit des Kalten Krieges. Die Gemeinsamkeit zwischen roter und brauner Diktatur wurde in der institutionellen Ungebundenheit politischen Handelns ausgemacht. Allein Diktatoren des Typs von Hitler und Stalin und die von ihnen verkörperten Regime vermochten es, gleichsam aus dem Stand heraus, ohne Vorbereitung der öffentlichen Meinung, ohne parlamentarische, ohne repräsentative Abstützung eine sich dem gesunden Menschenverstand bzw. dem Geist der Zeit verschliessende Konstellation herbeizuführen. In Verbindung mit der auf «München 1938» folgenden Enttäuschung verdichtete sich das Bild der späten dreissiger Jahre zu einem Menetekel, auf das die Totalitarismustheorie die realistische – und für die politische Kultur des Westens insgesamt grundlegende – Antwort sein wollte.Dan Diner ist Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur der Universität Leipzig.
22. August 2009, Neue Zürcher Zeitung
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