Montag, 21. Juli 2008

Ägypten, Kairo, Disziplin

Ägypten; Soziale Lage und Bildung

„Ägypten nimmt vom Pro-Kopf-Einkommen her im afrikanischen Vergleich eine mittlere Position ein. Das BIP ist 2004 um 4,2 % gewachsen. Davon wurden 15 % in der Landwirtschaft, 37 % in der Industrie und 48 % im Dienstleistungssektor erwirtschaftet. 27 % aller Erwerbstätigen arbeiteten 2002 in der Landwirtschaft, 21 % in der Industrie und 52 % im Dienstleistungssektor.

Alle Arbeitnehmer sind sozialversichert; es gibt eine Kranken-, Alters- und Invalidenversicherung. Geleistet werden auch Hinterbliebenenrenten, Krankengeld und Arbeitslosenunterstützung. Die Beschäftigten in der Industrie sind zu einem gewissen Prozentsatz an den Unternehmensgewinnen beteiligt. Die Arbeitslosigkeit lag 2005 und 2006 im Durchschnitt bei 9,8 % mit einer hohen verdeckten Arbeitslosigkeit. Erschwerend kommt hinzu, dass von den einst 3 Mio. ägyptischen Gastarbeitern im Ausland sehr viele wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind – vor allem aus Kuwait und aus dem Irak. Generell lässt sich sagen, dass auf dem Land eine saisonale Arbeitslosigkeit typisch ist; in den Städten herrscht dagegen eher permanente Unterbeschäftigung. Die Inflation lag im gleichen Zeitraum bei 4,5 % im Durchschnitt.

Das Gesundheitssystem ist in den Städten relativ gut entwickelt, auf dem Lande gibt es noch gravierende Lücken. Einseitige Ernährung und mangelnde Hygiene sind Ursachen für endemische Krankheiten (etwa Bilharziose); ein weiteres Problem stellt Malaria dar. Allgemeine Schulpflicht bei kostenlosem Unterricht besteht für 6- bis 12-Jährige. Das derzeitige Schulsystem wurde 1952 eingeführt; ihm zufolge schließen sich an die Grundschule eine dreijährige Vorbereitungs- und eine dreijährige Sekundarschule an, darauf folgt die Hochschulausbildung. Die Analphabetenrate beträgt trotz des erheblichen Ausbaus schulischer Einrichtungen noch etwa 50 %. Von den zwölf Universitäten Ägyptens befinden sich fünf in Kairo.“

„Kairo hat 7,9 Millionen Einwohner im administrativen Stadtgebiet (2008) und ist mit 16,1 Millionen Einwohnern in der Agglomeration (2008) neben Lagos in Nigeria die größte Metropolregion in Afrika. In Ägypten existiert allerdings keine Meldepflicht, weswegen die angegebenen Einwohnerzahlen Hochrechnungen auf Basis der Volkszählungsergebnisse darstellen. Inoffizielle Schätzungen geben bis zu 25 Millionen Einwohner für den Großraum an, was nahezu ein Drittel der Gesamtbevölkerung Ägyptens bedeuten würde.“

Während medizinische Errungenschaften erfreulich sind, mit Bildung sieht es etwas schwieriger aus: nur Besuch einer Privatschule in Kairo gibt eine Chance auf gute Bildung und erfolgreiche Zukunft. Um es den Kindern zu ermöglichen müssen Eltern arbeiten, arbeiten, arbeiten... und sparen, sparen, sparen.
Die Kinder dürfen dort aber laut sein und niemand wundert sich, ist ungeduldig oder verärgert. Es macht den Müttern leichter...

Nun .. dort ist es noch nicht soweit wie hier, mit der Sehnsucht nach der Disziplin.

Apropos Disziplin:

Bernhard Bueb - Lob der Disziplin - Eine Streitschrift
Klappentext
Es gibt keinen Konsens mehr darüber, wie man Kinder und Jugendliche erzieht, mit der fatalen Folge, dass viele Eltern verunsichert sind. Sie haben Skrupel, klare Regeln vorzugeben und Grenzen zu ziehen, und leiden gleichzeitig darunter, dass ihnen die Kinder auf der Nase herumtanzen. Bernhard Bueb, langjähriger Schulleiter der Internatsschule Salem und Vater von zwei Töchtern, schreibt der Disziplin eine zentrale Rolle bei der Kindererziehung zu: Sie ist in seinen Augen die Voraussetzung für Glück und Freiheit. Nur wer früh gelernt hat, Verzicht zu üben, Autoritäten anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen, kann später sein Leben selbstbestimmend in die Hand nehmen.
List Verlag, München 2006
ISBN-10 3471795421, ISBN-13 9783471795422

Und noch etwas Wichtiges:

Kinderland abgebrannt
Michael Winterhoff stellt der Familie eine düstere Zukunftsprognose aus
Beginnen wir mit einem Zitat: "Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widerspricht den Eltern und tyrannisiert die Lehrer." Was sich liest, als stünde es in dem Buch des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff, das unter dem Titel "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" derzeit für Diskussionen sorgt, ist in Wahrheit zweieinhalb Jahrtausende alt und stammt von Sokrates.

Winterhoffs Befund klingt indes ganz ähnlich: Die Kinder des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind demnach narzisstisch gestört, nicht mehr lern- und leistungsbereit und agierten rein lustorientiert. Über die Ansätze dieser alten Zöpfe lässt sich natürlich immer trefflich streiten. Die Erziehungswissenschaft tut dies seit jeher, und verlässlich ist dabei allein der Wandel: von der autoritären zur antiautoritären Erziehung, vom Frontalunterricht zur Gruppenarbeit, vom Zwang hin zur Freiheit. Auf die Ächtung der Erziehung folgt dann wieder der Ruf nach Ordnung, eben das Lob der Disziplin.

Jetzt ist es also Michael Winterhoff, der es mit seinen Überlegungen, warum sich unsere Kinder zu "Monstern" entwickeln, "vor denen wir im Alltag immer häufiger mit einer großen Fassungslosigkeit stehen", in die Bestsellerlisten geschafft hat. Winterhoff sieht Deutschland im "Höllenritt" auf eine Katastrophe zusteuern. Mit Übertreibungen solcher Art will der Autor offenbar Aufmerksamkeit erregen, doch lenkt er damit vor allem von einigen seiner durchaus bedenkenswerten Thesen ab.

Tatsächlich verzeichnet die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung seit ein paar Jahren einen Anstieg der Anfragen, dreißig Prozent aller Kinder und Jugendlichen befinden sich heute in Behandlung von Ergotherapeuten, Logopäden und Psychotherapeuten, und ein Viertel aller Schulabgänger hat Schwierigkeiten während der Ausbildung. Anders als früher, so Winterhoffs Resümee nach dreißig Jahren psychiatrischer Praxiserfahrung, könnten viele Kinder heute nicht mehr richtig sprechen, sich nicht mehr konzentrieren, seien motorisch unterentwickelt und unfähig zu Freundschaft: "Jeder Zugang zu ihnen scheint unmöglich geworden zu sein, sie terrorisieren ihre Umwelt mit einem inakzeptablen Verhalten und sind gegen Steuerungsversuche von außen absolut immun." Ihr Sozial- und Leistungsverhalten sei viel schlechter als das vergleichbarer Altersgruppen vor fünfzehn Jahren. Und während die Öffentlichkeit verhaltensauffällige Kinder allzu oft in verwahrlosten Verhältnissen verortet, begegnet Winterhoff in seiner Sprechstunde immer häufiger Kindern aus sogenannten intakten Familien, deren Eltern sich besonders liebevoll um den Nachwuchs bemühen.

Gerade darin liegt für den Autor ein großes Problem, das er auf dem Feld der Tiefenpsychologie und der Psychiatrie diskutiert: Nicht die Kinder sind demnach krank und müssen therapiert werden; vielmehr sind es die Eltern, deren beziehungsgestörtes Verhalten dazu führe, dass Kinder oftmals psychisch unterentwickelt sind. "Die heutige Misere ist deshalb keine Bildungsmisere, sondern eine Beziehungsmisere", glaubt der Kinderarzt. Weil Kinder heute nicht mehr geführt, in ihrem Verhalten gespiegelt und also geschützt, sondern durch Kumpelei der Erwachsenen um ihre Entwicklung gebracht würden: Eltern machten sich Kinder als kleine Erwachsene ebenbürtig und überforderten sie damit restlos. Eltern verwechselten Geborgenheit mit Grenzenlosigkeit und wollten in einer Gesellschaft, die Bedürfnisse nach Anerkennung und Ordnung kaum erfüllt, die innere Leere mit der Liebe ihrer Kinder kompensieren. Dass die Kinder zum Partner erhoben werden und als Zuwendungslieferant herhalten müssen, stellt für Winterhoff einen emotionalen Missbrauch an Kindern dar auf den Stufen der Partnerschaft, Projektion und Symbiose. Er fordert, Kinder wieder als Kinder wahrzunehmen, was freilich schon Rousseau nicht anders empfahl.

Dass der Autor die gesellschaftliche Fehlentwicklung unserer Tage mit den Erziehungskonzepten der siebziger und achtziger Jahre begründet, die ihre Hauptaufgabe im Schleifen des Autoritätsbegiffs sahen, verwundert nicht. Er propagiert ein Erziehen im Sinne von Leiten und Führen, weil er es für die Psyche der Kinder als hochproblematisch ansieht, ihnen nahezu unbegrenzte Selbstverwirklichung zuzugestehen. Das aber tun ihm zufolge heute alle, die die kindliche Entwicklung beeinflussen können, neben Eltern also auch Erzieher, Lehrer, Großeltern und Therapeuten. Mit ihrer Wellness-Pädagogik - Liebe statt Grenzen, Argumente statt Vorschriften - brächten sie die unglücklichen kleinen Despoten erst hervor: Die Kindergärten praktizierten statt Regeln und verlässlichen Strukturen offene Konzepte, die Grundschulen freien Unterrichtsbeginn und selbständiges Lernen. Was eigentlich dazu gedacht sei, den Kindern den Druck zu nehmen, führe in Wahrheit zu Überforderung, "weil die Kinder keinerlei Orientierung im schulischen Alltag geboten bekommen".

Winterhoff gilt der Harmoniedrang als eines der Hauptprobleme moderner Erziehung. Und in einem scheinen die Pädagogen sich einig: Der Wandel der Beziehungen und des Familienlebens, das Schwinden traditioneller Werte sowie Fernsehen und Internet haben Erziehung schwieriger und anstrengender gemacht. Auf die Veränderungen der modernen Kindheit hat die Erziehungswissenschaft bislang kaum Antworten gefunden.

Kinderland ist also abgebrannt? Michael Winterhoffs Pamphlet, angereichert mit bestürzenden Fallbeispielen und Szenen aus dem Kinderalltag, scheint keinen anderen Schluss zuzulassen. Dennoch möchte man dem Autor entgegenhalten, dass Eltern besser sind als ihr Ruf. Die allermeisten nehmen das Projekt Erziehung sicherlich ernst und nähern sich diesem mit Menschenverstand und Intuition, wissend um das hierarchische Generationsverhältnis. Ein gewisser Grad an Verunsicherung lässt sich wohl nicht leugnen. Viele Eltern, bombardiert von Expertenratschlägen, wissen oft eher, was sie nicht wollen: Weder die autoritäre Strenge ihrer Großeltern noch die nachfolgenden Konzepte, als Eltern sich von ihren Kindern Stefan und Ulrike nennen ließen.

Eltern sind nie perfekt. Jede Familie ist eine Welt für sich, in der gesamtgesellschaftliche Thesen oft nicht greifen. Deshalb führt es auch nicht sonderlich weit, den "Erziehungsnotstand" allein den Siebzigern und Achtzigern in die Schuhe zu schieben, wie der Autor es tut. Es hat sich schließlich gezeigt, dass aus den Kinderladen-Kindern keineswegs nur Schulversager hervorgegangen sind, sondern ebenso wissbegierige, tolerante und kommunikative Menschen wie zuvor - und sei es aus Protest gegen die Eltern. Sandra Kegel

Michael Winterhoff: "Warum unsere Kinder Tyrannen werden". Oder: Die Abschaffung der Kindheit.Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008.
191 S., geb., 17,95 [Euro].
Text: F.A.Z., 20.06.2008, Nr. 142 / Seite 43

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