Samstag, 30. Januar 2010

Umverteilender Sozialstaat - Gleichheit als Illusion


"Deutschland ist, mehr als viele andere Länder, auf Gleichheit fixiert. In Umfragen zeigt sich, dass immer mehr Deutsche den Begriff der Gleichheit höher schätzen als den Begriff der Freiheit. Im Osten gibt es dafür eine klare Mehrheit. Und auch im Westen haben sich seit den neunziger Jahren die Gewichte verschoben. In breiten Kreisen wird der Begriff Freiheit mit Unsicherheit und Risiken sowie mit "sozialer Kälte" verbunden. Daher geben sie der Gleichheit - verstanden als Einebnung materieller Unterschiede - den Vorzug. Doch dieses Ideal erweist sich als Illusion, es folgt daraus Enttäuschung. Inzwischen sagt eine Mehrheit, es gehe in der Bundesrepublik nicht mehr "gerecht" zu. (...)

Es gibt verschiedene Gründe für die sich öffnende Schere zwischen den Einkommensgruppen. Der Druck auf den Niedriglohnsektor nimmt vor allem wegen der Globalisierung und wegen des Strukturwandels zu. Eine auf High-tech-Güter spezialisierte Wirtschaft mit stark automatisierter Produktion hat wenig Verwendung für Geringqualifizierte; sie werden an den Rand gedrängt. Die Problemgruppen wachsen durch die Zuwanderung in die Unterschicht. Und je mehr sich die traditionellen Familien auflösen, desto größer wird die Zahl der armutsgefährdeten Alleinerziehenden. So weit, so schlecht. (...)

Die Gerechtigkeitsdebatte hat sich auf Verteilungsfragen verengt.

Diese führt aber in eine Sackgasse. Wie der Historiker Paul Nolte bemerkt hat, war in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik der Gerechtigkeitsbegriff "zwischen Recht und Freiheit, Würde und Chancen aufgespannt". Die Gleichheit, die das Grundgesetz festschreibt, meinte bürgerliche Rechtsgleichheit, die Schutz vor staatlicher Willkürbehandlung garantiert. Gerechtigkeit hieß Leistungsgerechtigkeit. Erst in den siebziger Jahren schlug das Pendel um in Richtung Verteilungsgerechtigkeit. Über die Jahrzehnte hat der umverteilende Sozialstaat gigantische Schuldenberge aufgehäuft (...)

Der umverteilende Sozialstaat beruht auch auf einer verfehlten Nullsummenlogik: Demnach ist der Wohlstand wie ein Kuchen, der innerhalb des Nationalstaats aufgeteilt wird. So funktioniert aber eine offene und dynamische Wirtschaft nicht, denn Unternehmen und Leistungsträger können abwandern. Der hochverschuldete Sozialstaat muss also neue Wege gehen und seine Ziele neu definieren. (...)

Eine anspruchsvolle Sozialpolitik setzt einen Mentalitätswandel voraus. Die deutsche Gleichheitsfixierung und die Angst vor der Freiheit müssen aufgegeben werden. Es gilt, die (Selbst-)Blockaden in der Unterschicht aufzubrechen, gerade unter Migranten, und deren Aufstiegswillen zu stärken. Eine illusionslose Sozialpolitik fordert und fördert Bildung. Gleichheit kann heute nur in einem annäherungsweise gleichen Zugang zu Chancen zur Entfaltung liegen. Hilfe zur Selbsthilfe in der Marktwirtschaft - mehr kann und sollte der Staat nicht leisten. Der Versuch, über staatliche Umverteilung die subjektive Gerechtigkeitslücke zu schließen, kann nicht gelingen. Vielmehr nährt die egalitätsfixierte Politik die Unzufriedenheit, weil sie unerfüllbare Erwartungen weckt."

Ausschnitte aus "Gleichheit als Illusion" von Philip Plickert
Text: F.A.Z., 30.01.2010, Nr. 25 / Seite 11
Leitartikel Wirtschaft

Keine Kommentare: